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—— E4 4 E E 1 1 : 1 S 44 I
Droſ. C. I Banſemer, Redakteur.
1. Jahrgang
Kette und Einſchlag.
Eine Erzählung aus der Zeit der Baumwollennoth
in Mancheſter
von :
I.FSmithk.
(Fortſetuna.)
„So bringt ſie ihm und verliert fünf
Sqiuirte daran; denn einlöſen könnt
Ihr die Uhr doch nicht mehr.“
Der Mann ſchien zu zoögern; doch der
Anblick ſeines Weibes und ſeiner Kinder,
die vor der Ladenthüre draußen warteten,
wirkte entſcheidend.
„So werde ich ſie wohl dalaſſen müßen,“
ſagte der Mann mit einem Seufzer, „wenn
wir nicht verhungern wollen.“
„Ihr habt die Wahl,“ verſetzte der Jude
mit einem rohen Gelächter. „Ich dränge
Niemand mein Geld auf.“
Der Weber biß ſich in die Lippen und
ſteckte ſchweigend das Geld ein.
„Zum Lumpenhändler damit.“ ſagte
Notle zu einem armen Weib, das auf dem
Ladentiſch einen Bündel mit Kleidern auf
geknöpfi hatte. „Weiter ſind ſie nicht
werth.“
„Iqh habe ſie hier gekauft,“ entgegnete
das arme Geſchöpſ.
„Wohl möglich.“
Der Shawl iſt unr ein einziges Mal
getragen worden und noch wie neu.“
Der Jude überblickte mit anſcheinender
Gleichgůltigkeit die Waaren und ſagte:
„Ich will Euch meinetwegen fünf Schil
linge dafür geben.“
Fünj Schillinge!“ rief die Frau ent·
ſetzt.
„Ich weiß, daß ich ein Narr bin und
mich noch durch meine Freigebigkeit rui—
nire,“ fůgte Norle bei. „Aber ich kann's
nicht bringen über mein Herz, hart zu ſein
in ſolchen Zeiten.“
Seine Gehülfen, zwei Männer von
mittlerem Alter mit abſtoßenden Geſich
lern, wechſelten grinſend Blicke, als liege
etwas ungemein Komiſches in dem Ge—
danken, daß ihr Dienſtherr ein Herz beſit
zen ſollte.
„Sagen Sie wenigſtens ſechs Schil
linge,“ drängte das arme Weib flehend.
Ei, daß Dich! Das heißt zu viel zu—
gemnthet einem guten Willen,“ rief Norle
das Buündel verächtlich zurückſchiebend.
„Was ich ſage, dabei bleibt's; keinen Far~
thing mehr.“ Das Kind in den Armen
der Frau begann zu weinen. Macht's
kurz, ſfůgte der Sprecher bei. „Ich kann
hier kein Kindergeſchrei brauchen.“
Die Mutter hielt die Hand hin, ſteckte
das Geld ein und wankte nach der Straße
hinaus. Kaum hatte ſie ſich entfernt, als
der alte Bettler, welcher einige Stunden
frůher vor dem Spital dem wohlhabenden
Norle ſo ernſt nachgeſehen, in den Laden
trat und in der Nähe des Eigenthümers
ſich auf einen Waarenballen niederſetzte.
Der Fremde war eine merkwürdig aus—
ſehende Perſon, eiune große aber vom Alter
gebeugte Geſtalt, wenn nicht etwa in der
gedrückten Haltung Affektation lag. Haare
uͤnd Bart waren weiß wie Schnee, die Er
ſteren lang und in reicher Menge unter ei
nem breiten K nenhut niederwallend.
Ein Maler waroe eine Freude an dem
Mann gehabt haben. Sein bräunliches
Geſicht trug trot der tiefen Furchen alle
Zeichen der Geſundheit, und gewann durch
die kleinen, ſchwarzen, ſchlangenartigen
Augen einen eigenthůmlich lebhaften Aus—
druck. Ein faͤdenſcheiniger, mit Flecken
verſehener Ueberrock, der faſt bis auf die
tntel niederfiel, vervollſtändigte das
ild.
„Was kann ich thun für Euch, mein
guter Freund ?“ fragte Norle, an das Ende
des Ladentiſches gehend, wo der Fremde
Platz genommen hatte.
„Preſſirt nicht. Ich kann warten.“
Der Inde betrachtete ihn einige Augen
blicke aufmerkſam und machte ſich dann
mit einem anderen Kunden zu ſchaffen.
Nachdem er einige weitere Shylockskäufe
gematht hatte, kehrte er zu ſeinem auffal.
lenden Beſuch zurück und wiederholte ſeine
Frage.
Ich kann warten,“ lautete abermals
die Antwort.
„Aber ich nicht,“ verſetzte der Ladenbe~
ſizer. „Zeit iſt Geld, und ich habe weder
die eine, noch das andere wegzuwerfen.“
„Ihr könnt von Glück ſagen,“ bemerkte
der Bettler ſarkaſtiſch.
„Von Glück?“
„Ja. Ich hab' Euch gekaunt, als Ihr
Zeit genug hattet und wenig oder nichts
damit anzufangen wußtet.“
Narle faßte den Mann ſchärfer in's
Auge, konnte aber nicht über ihn klug wer
den.
Ich verſtehe mich nicht auf Raäthſel,“
ſagte er eudlich, „und habe auch nicht Luſt
mir damit den Kopf zu zerbrechen. Was
wollt Ihr?“
Der Gaſt antwortete darauf iu einer
fremden Sprache. Ein tiefes Roth über—
flog die dunkein Züůge des Juden, und
ſeine Augen zeigten einen unruhigen Aus
druck; doͤch faßte er ſich bald wieder und
xief mit einem erzwungenen Lachen:
Was iſt das fur ein Kauderwelſch?“
Rumäniſch, Lin rumäniſch.“
Rumäniſch, Lin?“ wiederholte der La—
debeſter. „Ich habe nie von einer ſol
chen Sprache gehört.“
„Wielleicht berſteht Ihr Euch beſſer auf
Zahlen,“ bemerkte der Bettler, ohne ſich
aus der Faſſung bringen zu laſſen.
„Dies ſchlͤgt allerdiungs eher in mein
Fach ein.“
„Dachte mir's wohl. Was halet Ihr
ſvon 3387?“
Norle erblaßte.
„Könnt Ihr's zuſammenzählen und mir
ſagen, wie viel es ausmacht?“
„Wie viel es ausmacht?“ wiederholte
der Inde, halb todt vor Schrecken.
„Denn wenn Ihr's nicht könnt, ſo weiß
ich in Mancheſter Leute die's können. Ihr
verſteht mich?“
„Kaum,“ ſtotterte Norle.
„Denkt ein Bischen nach,“ ſagte der
Beſuch mit ſeinem nnangenehmen Lä—
ſcheln.
„Wer ſeid Ihr? Welcher Teufel ſchickt
ei~ her, mich zu quälen?“
„Ein grüner Teufel.“
„Ein grüner Tenfel?“
„Ja, von Liverpool. Verſteht Ihr
mich jetzt?“
Die Leute im Laden hatten anfangs
dieſem Geſpräch wenig Anfmereſamkeit ge~
zoilt, gewannen aber nachgerade ein In—
tereſſe dafür und ſammelten ſich um die
Beiden.
„Wie viel ülhr iſts?“ fügte der Bettler
bei, indem er eine ſilberne Uhr aus der
Taſche zog und das Zifferblatt betrachtete.
„Halb betrunken, wie gewöhnlich.“ rief
Norle, ſich zu einem ſcheinbar herzlichen
Lachen anſtrengend. „Ich erinnere mich
jetzt Eurer und der Uhr, die Ihr mir vor
einigen Jahren abkauftet. Wenn's mir
recht iſt, ſo machten wir den Kauf bei
einem Glas ab. Freut mich frent
mich ſehr, Euch wieder zu ſehen,“ fügte er
bei, dem Fremden die Hand hinbietend.
„Kommt's ihm endlich,“ ſagte der Bett
er.
„Nur ein alter Kunde,“ bemerkte einer
von den Umſtehenden.
„Mr. Norle, Mr. Norle,“ riefen meh—
rere Stimmen.
„Meine Gehülfen werden die Bedie—
nung beſorgen,“ verſetzte der Ladeninhaber
haſtig. Dann lehnte er ſich über den Tiſch
und ſagte einige Worte in derſelben
Sprache, die er kurz zuvor verleugnet hatte.
„Fällt Dir jetzt das Rumäniſche wieder
ein, Lin?“ entgegnete ſein Beſuch.
„Vorſichtig“ flüſterte Norle. „Kommt
heute nach Ladenſchluß wieder her, und—
„Laß Dich ruhig abthun meinſt Du
Lin? Nein, nein ſo dumm bin ich nicht.
Du haſt mich, als ich in den Laden trat,
vom erſten Augenblick an erkannt.“
„Nein.“
„Lüge nicht.“
„Erſt als ich Euch ſprechen hörte.“
„Na, das iſt möglich, denn wir haben
uns lange nicht geſehen, und mit den Jah—
ren verändert man ſich. Ich bin immer
ein guter Onkel gegen Dich geweſen, Lin,
und hoffe, Du wirſt Dich als Neffe nicht
ſchlecht erweiſen.“
„Alles mit Art.“
„Haſt Du mich je anders gefunden?“
„Bisweilen.“
Nach vielem Hin· und Widerreden mit
gelegentlich eingemengten Drohungen und
Flüchen händigte Norle dem alten Mann
zwanzig Pfund ein.
„Damit könnt ihr zufrieden ſein “ be—
merkte er.
„Vorläufig ja.“
Der Jude machte ein bitteres Geſicht.
„Wenn's fertig iſt, ſiehſt Du mich wie
der,“ fuhr der Bettler fort. „Nach ſo
langer Trennung muß man die Freund—
ſchaft deſto fleißiger pflegen.“
„Fluch über ihn!“ murmelte Norle, als
der alte Mann den Laden verließ.
Einundvierzigſtes Kapitel.
Es gab in Mancheſter Wenige, die bei
der allgemeinen Noth ſchwerer litten, als
der blinde John, denn Muſik und Heiter-~
keit erſchien Leuten, denen das tägliche
Brod fehlte, wie Hohn. Gleichwohl er
trug er ſeine ſchwere Lage mannhaft und
als er ſich endlich genöthigt ſah, um Un—
terſtützung zu bitten, wies er ſie zurück,
weil ſie ihm in der demüthigenden Form
eines Armenhausaſyles geboten wurde.
„Ich könnt nicht leben, Junge,“ ſagte
er, als er dieſen Gegenſtand mit ſeinem
Freund Willie beſprach, „wenn ich in je—
nen garſtigen vier Mauern eingeſperrt
ſein müßte. Man ließe mich meine Vö—
gel nicht mitnehmen, und wie ſollte ich
mich zurecht finden an dem fremden
Platze?“
„Leider bin ich nicht in der Lage, Euch
Beiſtand zu leiſten,“ bemerkte ſein Zuhö—
rer mit einem Seufzer.
„Gott behüt, wer könnte dies von Dir
erwarten?“ entgegnete John. „Du haſt
für vier Mäuler zu ſorgen, und das iſt
keine leichte Aufgabe in ſo ſchwerer Zeit.
Möchte nur wiſſen, was die Amerikaner
mit ihrer Baumwolle angefangen haben.
E kann's doch nicht lange mehr fortge
en.“
„Der Himmel allein weiß, wann es ein
Ende nehmen wird,“ verſetzte Willie.
„Als ich dasletzte Mal imSchifflein ans
ſpielte, hoörte ich den Ingwer-Ned ſagen, ſie
machen Schießpulver daraus. Hat man
je von einer ſolchen Dummheit gehört ?“
„Unmöglich iſt s nicht, ja nicht einmal
unwahrſcheinlich,“ erwiderte Willie.
„Was, Schießpulver machen aus Baum
wolle?“ rief der blinde John hocherſtaunt.
„Das iſt ſchon geſchehen.“
„Herr, uns bei! Nächſtens macht
Savannah, Ga., den 21. Februar 1872.
man aus den Brodlaiben Kanonenkugeln
und ſchießt mit dem lieben Brod die Leute
todt.“
„Wir leben im Zeitalter desFortſchritts.“
„Sauberer Fortſchritt, arme Leute aus—
zuhungern, die nichts verlangen als Arbeit,
um ehrlich durch die Welt zu tkommen!
Wenn ich Königin wär, ſo wollt' ich zu
der Haue bald einen Stiel finden.“
„Und wie würdet Ihr dies angreifen?“
ſagte ſein Freund mit einem matten Lä—
cheln.
„Ich ginge ſelber hinüber, nähme für
ſchlimme Fälle den Löwen und das Ein—
horn mit, und würde mit dem Volk dort
ein Bischen von der Leber weg reden.
Jungens, thät ich ſagen, ich komme nicht
um euch den Text zu leſen, daß ihr nicht
auf den Rath meines Freundes und Nach
bars, des Herrn Napoleon, hört, (ich gäbe
ihnen dann Wink über den wahren Sach
verhalt) ſondern habe die Fahrt gemacht
um zu ſehen, ob ich ench nicht zu einem
gütlichen Vergleich verhelfen kann. Als
England und Amerika ſich nicht mehr mit
einander vertragen wollten, fielen ſie ſich
in die Haare das war ganz natürlich
und zulett ließen ſie . von einander ab,
nachdem es hüben und drüben eine gehö—
rige Menge blutiger Köpfe gegeben hatte.
Auch ihr habt euch auf die Dauer nicht
verſtändigen können kein Menſch hätte
geglaubt, daß es ſo lang hielte; die Bal—
gerei blieb nicht aus, aber warum könnt
ihr nicht ein Ende finden, wie wir früher
thaten?“
„Vortrefflich!“ rief Willie. „Kein Rath
könnte beſſer ſein. Aber wie dann, wenn
man Euch nicht hören wollte?“
„Dann würde ich ſagen: Schaut her,
Jungens, England hat viel mit euch durch~
gemacht, der pennſylvaniſchen Schuldbriefe
gar nicht zu gedenken, für die man ench
alle in's Zuchthaus hätte ſchicken ſollen,
wär's nicht wegen der Ehre der Familie
geweſen; denn am Ende gehört ihr doch
zu uns. Aber wenn die Weber verhun—
gern ſollen, ſo iſts etwas ganz Anderes.
Das Land gehört euch wir haben's
euch vor langer Zeit überlaſſen, und was
ihr damit anfangt, geht uns nichts an.
Aber die See gehört uns. Rule Britan
nia! Ihr habt, ſchätz wohl, die National
hymne nicht vergeſſen? Baumwolle müſſen
wir haben und wollen wir haben, wo im—-
mer ſie ehrlich zu kriegen iſt; drum ſeht
euch vor, daß es keinen Sturm gibt.
Dann träte ich, wenn ich Königin wäre,
dem Löwen ein Bischen auf den Schwanz
und ließe ihn brüllen, um den Amerika
nern zun zeigen, daß ich nicht ſpaſſe. Bis
her haben ſie uns nicht geglaubt, und dies
iſt der Grund, warum ſie gegen uns die
Eiſenfreſſer ſpielen.“
„Ich glaube, es iſt ein Körnchen Ver
ſtand in dem, was Ihr ſagt,“ bemerkte
ſein Zuhörer.
„Ein Körnchen?“ rief John. „Ein
ganzer Metzen, meinſt Du.“
„Aber in der Zwiſchenzeit haben wir
mit Mangel und „Hunger zu kämpfen,
und das Armenhaus grinst uns an.“
„gum Henker mit dem Armenhans,“
errelte ſein Beſuch. „Nein, ſo weit iſt's
noch nicht mit mir.“
„Daun könnt Ihr von Glück ſagen.“
„Ich habe mich ſeiner bisher erwehrt
und hoffe, es wird mir auch ferner gelin—
gen. Wie meinſt Dn wohl, Junge, daß
ich's angreife? Ich hätte freilich nicht ge~
dacht, daß es mit mir ſo weit herunter
kommen würde, und bei Tag könnt ich's
nicht, aber wenn's dunkel wird gehe ich
nach dem Spital und ſpiele ein Bischen
auf der Geige. So arm nun anch die
Leutchen ſind. fällt doch da und dort eine
Kupſermünze, bisweilen ſogar ein Sechs—
penceſtück in meinen Hut.“
„Spielt Ihr dieſen Abend auch?“ fragte
Willie, ſeine Stimme zu einem Flüůſtern
dämpfend. ;
„Bleibt mir nichts Anderes übrig,
Zunge.“
„Wollt Ihr kein Accompagnement ha—
ben?“
„Ein was?“
„Aeccompagnement. Geige und Flöte
zuſammen wurden —“ Er konnte nicht
weiter ſprechen; die Scham erſtickte ſeine
Stimme.
„Du willſt doch nicht ſagen, daß Du—~“
„Ich kann nicht mein Weib und meine
Mutter aus Mangel an Nahrung um—
kommen laſſen,“ unterbrach ihn Willie in
traurigem Ton.
„Mangel an Nahrung?“ rief John tief
bewegt. „So weit ſollte es bei Dir ge
kommen ſein, bei dem der Arme ſtets einen
Biſſen und eine warme Suppe fand ? Ach,
daß ich dies erleben muß.“ Der Blinde
blieb eine Weile, die Kniee mit den Hän
den umfangend, gedankenvoll ſizen; dann
fuhr er plötzlich auf und fragte ſeinen Un—
glücksgefährten, ob ſie allein ſeien. „So
riegle,“ entgegnete er auf die Bejahung
dieſer Frage. „Und jetzt,“ fuhr er fort,
nachdemn Willie dieſer Aufforderung ent—-
ſprochen hatte,„borge mir einMeſſer, aber
ein ſcharfes.“
„John,“ ſagte Willie, die Hand auf ſei
nen Arm legend, „wozu braucht Ihr ein
Meſſer? Ich hoffe nicht, daß Ihr Euer
Gottvertrauen verloren habt und unge
rufen vor Eurem Schöoöpfer erſcheinen
wollt. Mein Schickſal iſt gewiß ſchwerer
als Enres; aber lieber wollte ich zehnmal
groößeren Jammer üůber mich ergehen laſ
ſen und mein Brod vor den Thüren bet-
teln, ehe ich einem ſolchen Gedanken Raum
geſtattete.“
„Was für einem Gedanken?“ fragte
der Muſikant erſtaunt.
„Dem Gedanken an Selbſtmord.“
Der Blinde brach in ein herzliches La
ſchen aus. „Gott behůte, Innge,“ ſagte
ſer. „Ich meinte, Du kenneſt mich beſſer.
Nein, nein, ich habe nicht ſo viele Jahre
ſin der Finſterniß herumgetappt und täg—
lich das mir von oben beſchiedene Brod ge
ſfunden, um mich in dieſer undankbaren
Weiſe zu benehmen. Die Blindheit iſt
gottlob nur ein irdiſches Gebreſte, und ob—
ſchon ich bloß ein armer Wurm bin, ſo
hoffe ich doch, nſtie das Antlit meines
Herrn und Meiſters und die Geſichter
meiner Freunde zu ſehen. Gib nur das
Meſſer her; ich will Dir zeigen, was ich
damit vorhabe.“
„Willie zögerte nicht länger Der Mu
ſikant hatte kaum dasMeſſer in der Hand,
lals er von oben an die Knoöpfe ſeines Ue—
berrocks zu zählen begann und den fůnften
abſchnitt. „Du mußt Niemand davon ſa
gen,“ flüſterte er.
„Was ſoll ich Niemand ſagen?“
„Wart nur; Du wirſt's bald merken“
Er nahm dem Knopf. den Ueberzug ab,
und ein Goldſtück kam zum leberzg
„Gold!“ rief Willie, der die Münze
durch's Gefühl erkannte.
„Ja, Junge; wenn wir nur ein Simri
ſvoll hätten.“
„Und Ihr glanbt, ich werde einwilligen,
daß Ihr Euch Eures letzten Schatzes be
ſraubt?“ ſagte ſein Freund tief ergriffen.
„s iſt nicht der letzte.“
„Ihr, den Alter und Unglüct —“
„Kommt wieder Dein Stolz, Willie,“
unterbrach ihn John, „Dein einziger Feh
ler? Doch nimm's nur; ich kann's ver
ſwinden, denn ich habe noch drei andere.
Ich ſparte mir das Geld zuſammen, um
mir damit ein ehrliches Begräbniß zu er—
kaufen und nicht der Gemeinde zur Laſt
zu fallen; denn dies wäre noch ärger als
das Armenhaus. Meinſt Du nicht auch
ſo? Warum redeſt Du nicht, Junge?“
fügte er bei, als ſein Freund im Uebermaß
ſeiner Gefühle vergeblich um Worte rang.
„Laßt mir Zeit, mich zu ſammeln,“ ent
gegnete Willie, ſeine Hand ergreifend.
Treuer, leßter Freund, der mir geblieben
iſt und mir in ſeinem eigenen Unglück ſich
in ſo rührender Weiſe zu erkennen ſieu
Ich danke Euch für Eure Liebe, als ob ich
ſie annehmen könnte; aber es wäre nicht
recht.“
„Nicht recht, wenn ichs Dir gebe?
Das kommt gewiß wieder von Deiner
Büchergelehrſamkeit her. wie's Deine Mut—
ter nennt, obſchon ich es lieber Stolz hei~
hen möchte. Du willſts nicht nehmen?“
(Fortſetung folgt.)
Eine Hinrichtung in Japan.
(Von Str., in der,Nation“.)
Im Winter des Jahres 1864, verbrei
tete ſich in Hokohama plötzlich das Gerücht,
unweit der Stadt Kamaknra ſeien zwei
engliſche Offiziere ermordet worden. Die
ſorgfältigſten Nachforſchuungen wurden
angeſtellt und die japaneſiſche Regierung
ließ es an Nichts fehlen, um die Mörder
zu ermitteln. Lange Zeit erſchienen aber
alle Verſuche ohne Erſolg zu ſein und
man hatte ſchon die Hoffnung aufgege
ben, als der Zufall einen der Thäter ent
deckte.
Das engliſche Conſulat wurde ſofort
benachrichtigt und der Mörder, ein japa
ide Edelmann, der ſich für einen
Offizier (lonine) ausgab und die That
Haß gegen die e vollführt
hatte, nach kuͤrzem Prozeß zum Tode ver
urtheilt.
Eines Nachmittags erhielt ich die Nach
lricht, daß ſich der Zug zur Vollziehung
res Urtheils in Bewegung ſetzte. Eine
compakte, aus Japaneſen und Fremden
zuſammengeſetßzte Menge wälzte ſich die
große Straße von Hokohama, Hondjidori
hinauf. Inmitten derſelben befand ſich
der Gefangene auf einem Pferde ſitzend
ſund an Händen und Füſſen gefeſſelt;
dem Zuge voraus liefen in bunter Unor—
dnung einige Soldaten, von denen einer
auf langer Pike eine Art von Plakat
trug, den Namen (dimidso Sedji) ſtand,
und Verbrechen des Verurtheilten enthal
tend.
Letzterer bot in ſeinen knochigen Ge—
ſichtszügen nnd ſchillernden Augen das
Urbild des japaneſiſchen Typus. Seine
Kleidung war gewählt, faſt elegant zu
ſuennen ſein Haar ſehr ſorgfältig geord
ſnet. Ruhig, als ginge ihn der ganze
Vorgang nichts an, betrachtete er ſanie
Blickes die ihn umgebende Menge und
nur zuweilen öffnete ſich ſein Mund zum
klagenden Sterbegeſang: „Ich bin Si
midſo Sedji, lonine von Awomori, ich
ſrerbe weil ich einen Fremden getödtet
habe. Noch bevor die Sonne unterge
gangen, wird mein Kopf fallen; morgen
ivird er auf der Hatoba von Lokohama
ausgeſtellt werden. Dann werden die
Fremden den Kopf eines Mannes ſehen,
der keine Furcht kannte. Ein trauriger
Tag für Japan, wo ein Edelmann ſ
den Tod eines elenden Fremden der Hand
des Henkers berit Mit feſter Hand
hätte ich mir ſelbſt den Tod gegeben, aber
es ſollte nicht ſein, die Gnade meines
Herrſchers hat mich verlaſſen. Männer
von Yokohama, erzählt den Leunten, daß
Simidſo Sedji nicht zitterte.“
Es war ein recht kalter Wintertag.!
Die Sonne ſpiegelte ſich in dem Schnee
gipfel des Fouzi · Yama und ſandte roſige
Streiflichter über die Erde. Gegen fünf
Uhr langte der Zug ans Tobi, der Richt
ſtätte an Man zu—ůndete Feuer an, um
ſich zu wärmen. Zwei Männer hoben
den Gefangenen vom Pferde; er rieb ſich
die ſtarr gewordenen Beine und Arme
und näherte ſich langſam einem der Feuer.
Dort ſtand er mehrere Minuten ſtumm
und unbeweglich, die Augen ſtarr auf ei
nen brennenden Zweig gerichtet, dann
ſeufzte er tief und wendete ſich an einen
der neben ihm ſtehenden Japaneſiſchen
Soldaten mit der Frage, wie ſpät es ſei.
„Sieben Uhr“ war die Äntwort. „Sieben
Uhr“, wiederholte er langſam. „In dedo
hatte man mir verſprochen, daß um vier
Uhr Alles vorbei ſein ſollte Ich friere.
Warum läßt man mich ſo lange warten?“
Langſam ſette er ſich darauf vor dem
Feuer nieder und forderte eine Taſſe heiſ
ſen Thee, die ihm auf der Stelle gebracht
wurde. Er zwang ſich entſchieden, gleich
giltg zu erſcheinen und oft drehte er den
Kopf hin und her, als wenn die in ſeiner
Nähe befindlichen Leute ihn intereſſirten.
Plötzlich hörte man in der Ferne ein Ge—
räuſch und Schreie, welche die Läufer
ansſtoſſen, wenn ſie die Ankunft eines
Offiziers ankündigen, um ihm Bahn zn
brechen. Schnell näherte ſich daſſelbe,
und bald konnten wir die großen Laternen
des Gouverneurs erkennen, die über den
Boden zu fliegen ſchienen. „Der Gon
verneur, der Gonverneur !“ rief man von
allen Seiten.
Ein Soldat legte Simidſo Sedji die
Hand auf die Schulter. „Bereite Dich
vor,“ ſagte er zu ihm, „der Gonverneur
von Lokohama iſt angekommen.“
Keine Bewegung, kein Laut verrieth
eine Bewegung. „Sajio“ (wirklich) war
die einzige Antwort. Ein Offizier nä—
herte ſich der Gruppe der Soldaten und
flüůſterte ihnen einige Worte zu.
„Die Exekution iſt auf morgen ver
ſchoben, wiederholte man auf dem gan—
zen Platßze. „Der engliſche Geſandte
wünſcht, daß das Regiment der Ermorde—
ten der Hinrichtung beiwohne.“ Es war
in der That ſo. Als der Gefangene dieſ
ſen Aufſchub hörte, wurde ſein ſchon blei—
ches Geſicht noch blaſſer. „Morgen,
morgen“ wiederholte er, ohne ein weiteres
Wort zu äußern, und ließ ſich ruhig in
den Kerker zurückführen.
Der folgende Tag verſprach ſchönes
Wetter. Die Luft war klar und kalt.
Alle Fremden in Lokohama ſchienen ſich
auf dem Plat Tobi Rendezvous gegeben
zu haben. Diejenigen, welche Sedji au
vorhergehenden Abend geſehen hatten,
waren neugierig, ob er ſeine bisher ge
zeigte Standhaftigkeit bis zum letßzten Mo·
ment behaupten würde; Andere wieder
waren begierig, den Mann kennen zu ler·
nen, der 24 Stunden der Gegenſtand
jeder Unterhaltung war. Wenn Sedji
nur den Zweck im Auge hatte, den Frem
den, ſeinen Feinden zu zeigen, daß ein
Japaner dem Tode gegenůber ruhig blei
ben könne, ſo durfte er mit ſich ſelbſt zu·
frieden ſein. Jeder bewunderte ſeinen
Muth und die Würde ſeiner Haltung.
Gegen acht Uhr Morgens kam das
Regiment, welchen die beiden Ermordeten
angehört hatten, auf dem Platze an und
nahm Frontſtellung auf. Zur ſelben
Zeit öffnete ſich das Gefängnißthor und
im Laufſchritt trugen zwei Männer einen
Trageſtuhl herbei, in welchem der Verbre—
cher ſich befand. Entgegen den Demon—-
ſtrationen, die von Seiten des Publikums
bei faſt jeder Hinrichtung in Enropa ſtatt
zufinden pflegen, beobachteten die Zuſchan—
er eine würdige, muſterhafte Haltung
und nur hin und wieder, in der Menge
zerſtrent, konnte man einen im Dienſt be~
findlichen Offizier oder Soldaten bemer
ken, denen die Aufrechthaltung der Ord—
nung nicht die geringſte Schwierigkeiten
verurſachte.
Die Vorbereitungen zu einer japaneſi
ſchen Hinrichtung ſind überaus einfach.
Man kennt weder Galgen, Guillotine
noch Klotz. Eine Grube vor fünf Fuß
Länge, eine Strohmatte zum Niederknien
und ein Eimer warmen Vo das iſt
Alles, was man nöthig hat. Für die
ſchweren Verbrecher indeß exiſtiren noch
die alten Strafen des Mittelalters, Kreu—
zigung, Verbrennung auf den Scheiter—
haufen und Zerhackung in kleine Stücke
vor der eigentlichen Tödtung.
Bei einer gewöhnlichen Hinrichtung,
wie diejenige, welche jetzt ſtattfinden ſollte,
kniet der Verurtheilte vor der offenen
Grube nieder; er iſt zwar gefeßelt, aber ſo
loſe, daß ſeine Bewegungen faſt frei zu
nennen ſind; die Arme indeſſen ſind auf
dem Rücken befeſtigt. Handwurzel gegen
Handwurzel.
Er trägt den gewöhnlichen Anzug der
Japaner, ein weiter, oben offenes Klei—
dungsſtück, welches Hals und Nacken
dungenun entblößt läßt. Man verbindet
ihm die Augen und befiehlt ihm, ſich voll
ſtͤndig ruhig zu verhalten, da die geringſte
Bewegung mit dem Kopfe, welche den
Scharfrichter derhindert, ſicher zu treffeu,
ſeinen Todeskampf nur verlängern würde.
Der Scharfrichter befindet ſich links vom
I. Stern. Herausgeber.
No. 44.
Verbrecher, mit ſeinen beiden Händen hält
er ein langes Schwert. Sobald der Erſte
ſeine Stelle eingenommen hat und die
noöthige Ruhe beobachtet, gibt Letzterer
dem Kopfe die erforderliche Lage und
ſchnell wie der Blitziſt der verhängnißvolle
Hieb ausgeführt. Iſt der Gefangene aber
unruhig, oder wird er ohnmaͤchtig, ſo
wird er von hinten derart befeſtigt und
von einem Knechte unterſtützt, daß die
Exekntion ſtattfinden kann. Nur höchſt
ſelten trifft der Hieb fehl, in der Regel
durchſchneidet das Schwert des Nachrich
ters den Hals des Verurtheilten leicht
und glatt wie ein Raſirmeſſer.
Sobald die Thüre des Trageſtuhles
geöffnet wurde, ſprang Simidſo Sedji
zur Erde. Man befürchtete nicht, daß er
ohnmächtig werden würde und hatte ihn
auſcheinend nur gebunden, um ein Da—
vonlaufen und den Gebrauch ſeiner Hände
zu verhindern. Er warf den Kopf empor,
zuckte mit den Schultern, athmete hoch
auf und richtete dann den Blick mehrere
Sekunden lang ſtarr auf die hell ſchei
nende Sonne; dann ging er leichten und
ſchnellen Schrittes auf die kleine Erhöhnng
der Grube zu, wo der Tod ihn erwar
tete. Wie am vorhergehenden Tage war
er auch heute ſorgfältig gekleidet. Sein
Geſicht war bleich, aber ſeine zuſammen
gepreßten Zähn, welche die Kinnbacken
übermäſſig hervortreten ließen, gaben ſei
nen Zügen eine ſo wilde Energie, daß die
Ermüdung des vorigen Abends darkn
nicht mehr zu bemerken war; ein ſeltſames
Lächeln der Verachtung und Verzweiflung
umſpielte ſeine ſchmalen Lippen
Vor der Grube angelangt wechſelte er
einige Worte mit dem Scharfrichter,
wahrſcheinlich in Bezug auf die Hinrich—
tung ſelbſt, denn man ſah, wie er ſich um
wendete, um mit dem Blicke den Platz
anzudeuten, den er einzunehmen wünſchte.
Als ein Knecht ſich nahte, um ihm die
Augen zu verbinden, ſtieß er ihn zurück.
„Fürchte nicht“ ſagte er mit ruhiger, höf
licher Stimme zu ihm, „daß ich eine Be
wegung mache. Ich weiß ſehr wohl, wie
ich mich zu verhalten habe.“
Seine Bitte wurde ihm gewährt; man
ſchien darauf vorbereitet und der Gouver—
neur war gewiſſermaſſen ſtolz auf das
Schauſpiel, welches er den Europäern
jetzt darbot. Es war, als wenn er ſagen
wollte: „Es iſt möglich, daß Du einſt
eben ſo ruhig ſtirbſt als Sedji, beſſer aber
gewiß nicht.“ .
Die letzten Vorbereitungen waren bald
getroffen. Sedji nahm, nachdem er den
Fuß auf die Strohmatte geſetzt hatte, erſt
die richtige Stellung ein und kniete dann
nieder. Die Knechte ſtellten ſich neben
ihn ans, um ihm erforderlichen Falles be~
hülflich zu ſein; aber ſene Knie zitterten
nicht. Noch einmal macht er mit den
Schultern eine Bewegung, als wenn er
ſich bequemer machen und ſeinen Hals
noch mehr entblößen wollte. Der Scharf
richter erfaßte ſein Schwert und průste es
ſorgfältig, dann ſtreifte er die weiten Aer—
mel ſeines Gewandes auf und hob, um
ſich zu überzeugen, daß nichts ſeine Bewe
gungen hindern könne, ſeine beiden Arme
uüber den Kopf empor.
Sedji verfolgte jede ſeiner Bewegungen
mit der groößten Aufmerkſamkeit „Iſt
Alles fertig?“ fragte er, als der Scharf
richter ſeinen Platz links neben ihm einge—
nommen hatte. Und auf die bejahende
Antwort deſſelben, fügte er hinzu: „Gieße
nun warmes Waſſer auf Dein Schwert,
und warte noch einige Minuten. Ich
will noch einmal ſingen und wenn ich ge—
endigt habe, ſo werde ich mich umdrehen
und zu Dir „jetzt“ ſagen. Dann werde
ich den Hals vorſtrecken und mich ganz
ruhig verhalten. Du kannſt dann zielen
und zuſchlagen, ohne Uebereilung.“
Nachdem er dies geſagt, ging eine
ſchreckliche Verzerrung über ſeine Geſichts—
züge, die Augen verdrehten ſich zum ſcheuß
uge di Schielen und ließen nür noch das
Weiße des Augenapfels erkennen. So
ähnelte er den alten Goöttern und ſterben—
den Helden der Japaner. Nun öffnete er
den Mund und ſang mit ſtarker, klarer
Stimme in faſt übernatürlich hohen und
langgedehnten Tönen, die weithin ertön—
ten: „jetzt ſtirbt Simidſo Sedji, der freie
Edelmann Er ſtirbt ohne Gewiſſens—
biße, denn, einen Barbaren toödten, das
iſt eine Ehre für den Patrioten.“
Daunn wendete er den Kopf dem Scharf
richter zn, ſah ihn einige Sekunden feſt an.
und rief dann mit lauter Stimme „jetzt'
Hierauf ſtreckte er den Hals aus, wie der
Rabe, welcher einen Raub erhaſcht, biß
die Zähne zuſammen und blieb unbeweg
lich wie eine Bildſäule.
Sein Kopf wurde auf einem Thor von
gokohama drei Tage lang ausgeſtellt.
Der Tod hatte den Zügen die frůhere
Starrheit zwar genommen, der ſtolze und
grauſame Ausdruck derſelben aber war
geblieben.
Einige Monate ſpäter wurde der Com-~
plice des Gerichteten verhaftet. Sein
Tod hatte keine Aehnlichkeit mit dem
Sedji s. Man ſchien Schwäche bei ihm
befürchtet und ihn vorher mit narkotiſchen
Mitteln betäͤubt zu haben. Eien und
betrunken bis zur Bewußtloſigkeit, nerließ
er, von zwei Männern unterſtůtht, ſeinen
Kerker und rang mit ihnen, bis er halb
erwürgt von dem todlichen Ealt er~
eilt wůrde. Sir)