Newspaper Page Text
avannah Abend Zeitung
; : R All 08 nl9 L E
Prof. C. I. Banſemer, Redakteur.
1. Jahrgang.
Kette und Einſchlag.
Eine Erzählung aus der Zeit der Baumwollennoth
in Mancheſter
von
I HKSmitih.
(Fortſetzuna.)
Seit Jahren hatte Mrs. Bentley ſtets
eine große nervöſe Angegriffenheit gezeigt,
wenn ein Brief einen baldigen ezeigt
ihres Gatten meldete; diesmal aber ſchien
ſie ſeiner Ankunft wenn auch nicht mit
Freude, ſo doch mit einer gewiſſen Unge—
duld eutgegenzuſehen, vielleicht weil ſie zu—
gleich ihren älteſten Sohn Gilbert, der
ſchon lange nicht mehr in Mancheſter ge—
weſen, und deſſen Gemahlin Lady Augu—
ſta mit erwartete.
„Noch zwei Tage, und ich werde mein
Schickſal kennen,“ ſagte Friedrich, als er
mit ſeiner Mutter und iyrer Tante im Be—
ſuchzimmer ſaß.
Vrmer Junge!“ ſeufzte Miß Weſtbury.
„Der Vater kann ſeiner wiederholten
und feierlich gegebenen Zuſage nicht ab—
ſtehen.“
„Er hat ſchon eben ſo feierliche Ver
ſprechen nicht gehalten,“ bemerkte die
Tante.
„In dieſem En —“
„In dieſem Fall muß ich eben meine
Leibrente verkaufen“ unterbrach ihn die
alte Dame, „damit Du ſelbſt ein Geſchäft
anfangen kannſt.“
„Friedrich,“ ſagte die Mutter, „ich bitte
Dich, laß gegen Deinen Vater keine Un—
geduld blicken. Gib ihm keinen Anlaß,
von ſeinem Wort zurückzutreten. Auch
ich will ihn bitten; vielleicht fruchtet es,
denn ich habe ihn noch nie um eine Gunſt
angegangen
Niß Weſtbury ſchüttelte den Knopf.
„Wo nicht —“ Mrs. Bentley zögerte.
„So ſuche ich mir einen Platz in einem
Comptoir, ergänzte Friedrich, .denn ich
kann nicht daran denken, das großmüthige
Erbieten der Tante anzunehmen.“
„Durchaus nicht großmüthig, mein lie—
ber Junge,“ rief die alte Dame. „Selbſt—
ſůchtig, ganz ſelbſtſüchtig, kann ich Dir
verſichern.“
Ihre Zuhörer lächelten; ſie wußten
wohl, was Miß Weſtbury unter Selbſt
ſucht verſtand.
„Sollte es ſich ſo unglücklich fügen,“
ſagte die Mutter in großer Aufregung, „jſo
biſt Du jung und haſt Talente und That—
kraft. Die Welt liegt vor Dir. In ei—
nem andern Land —“
„Ach nein,“ unterbrach ſie Friedrich
haſtig.
Mrs. Bentley ſah ihn ernſt an.
„So lange ich Sie noch habe,“ fuhr er
fort, „faällt es mir nicht ein, mein Geburts
land zu perlaſſen. Ich muß in Ihrer
Nähe bleͤben, um Sie zu tröſten und Sie
zu ſchützen.“
„Gott ſegne Dich, mein edelherziger
Sohn. Ich bin ſchwach, aber Deine
Worte haben mir wieder Kiaft verliehen.
Du haſt ſtets treu zu mir gehalten, und
ſollte es zu einem Kampf kommen, ſo werde
~ wiſſen, was mir die Mutterpflicht auf—
erlegt.“ In denmi Ton, in welchem die
lange vernachlaſſigte Frau die letzten
Worte ſprach, lag eine würdevolle Feſtig
keit, welche ihre Zuhörer in Staunen ſetzte.
„Nur keine Trennung, Mutter,“ ſagte
Friedrich; „über dieſen Punkt ſteht mein
Entſchluß feſt. Auch habe ich noch einen
andern Beweonrund. in Mancheſter zu
bleiben. Der Name, den ich trage, iſt be
fleckt, und es liegt mir ob, ihm zu der
Reinheit zu verhelfen, deren ſich der meines
Grobpatere zu erfreuen hatte.“
„Ach wenn wir nur ſein Teſtament hät—
ten,“ dachte Miß Weſtbuay.
„Am andern Moregn trat Mrs. Bent—
ley, zur großen Ueberraſchung ihrer Tante
für einen Ausgang angekleidet, in das
Beſuchzimmer; dem Wunſche ihres Gatten
gemäß war nämlich die Equigage längſt
abgeſchaft worden.
„Iſt s möglich, Marie, daß Du ſchon
ſo frůh ausgehen willſt?“ rief Miß Weſt
bury.
Zreiih
„Warte nur ein paar Minuten; ich bin
ſogleich bereit.“
Nach einigem Zögern theilte ihr die
Nichte mit, daß ſie den Ausgang allein
machen wolle.
„Und darf ich fragen wohin?“
„Ich bitte, liebe Tane, fragen Sie nicht.“
Miß Weſtbury fühlte as ſehr verletzt.
„Es iſt das erſte Geheimniß, das ich vor
Ihnen habe, und ich gebe Ihnen das feier
liche Verſprechen, daß es auch das letzte
ſein ſoll.“
„Ein Geheimniß zwiſchen uns?“
„Haben Sie nicht auch eines vor mir?“
Miß Weſtburh erroöthete und fragte nicht
weiter.
Mrs. Bentley lenkte ihre Schritte nach
dem Comptoir eines Freundes ihres ver—
ſtorbenen Vaters, des Mr. Aſhton. Der
alte Herr war höchlich erſtaunt über den
Beſuch Mariens, die ſo zurückgezogen lebte,
daß er ſie in Jahren nicht geſehen hatte.
„Nennen Sie mich immerhin Marie,“
ſagte Mrs. Bentley, als er ſeine vertrau
liche Anrede durch die förmlichere verbeſ
ſern wollte. „Es erinnert an frühere Zei—
ten. Mein Beſuch überraſcht Sie?“ Mr.
Aſhton konnte es nicht leugnen. „Ich
komme, Sie um eine Gunſt zu bitten.
Mein Mann ſoll morgen hier eintreffen.
Ich bitte Sie, Mancheſter nicht zu verlaſ—
ſen, ohne mir davon Nachricht zu geben.“
„Nach Ihrem Wunſch.“
„Auch iſt es mir von Wichtigkeit, daß
dieſer mein Beſnch ein Gehemniß bleibe.“
„Sie dürſen auf mich zählen. Haben
Sie ſonſt noch ein Anliegen?“
„Ja; ich erſuche Sie, zu mir zu kommen
wann immer ich nach Ihnen zu ſchicken
für noͤthig halte.“
„Recht gerne.“
„Und bitte Sie in meinem Namen an
meinen Onkel, Michael Haman, daſſelbe
Erſuchen zn ſtellen.“
Der Fabrikant begann tief aufzuathmen.
Das ſah ernſthaft aus.
Vielleicht bedarf ich weder Ihrer, noch
ſeiner Dienſte; aber wenn es der Fall ſein
ſollte —“
„So koönnen Sie ſich auf mich verlaſſen.“
Mrs. Bentley wußte, daß ſie ſich von
Ihrem Onkel des Gleichen verſehen durfte
und verabſchiedete ſich.
„Endlich!“ murmelte Michael Haman,
als Mr. Aſhton ihn von der ſeltſamen
Bitte, welche ſeine Nichte an ihn gerichtet
in Kenntniß ſetzte. „Endlich!“
Dreiundpierzigſtes Kapitel.
Bei aller Herzloſigkeit fühlte John
Bentley doch eine leichte Glut der Scham
auf ſeinen Wangen, als er der armen
Dulderin wieder begegnete, deren Glücks
traum er ſo erbarmenloß zerſtört hatte.
Die faſt zu Feſtigkeit ſich ſteigernde Faſ
ſung, mit der ſie ihn empfing, vermehrte
ſeine Verwirrung. Aus Thränen und
Vorwürfen würde er ſich nicht halb ſo viel
gemacht haben.
Was Miß Weſtbury betraf, ſo konnte
man über ihre Gefühle gegen den Gatten
ihrer Nichte nicht lange im Unklaren blei
ben; ſie war keine Heuchlerin und ſtellte
ſich nicht an, als ob ſie die ihr dargebotene
Hand nicht ſehe, ſondern wandte ſich ein
fach verächtlich ab.
Lady Anguſta, die eben aus dem Wa—
gen geſtiegen, fühlte ſich ſehr ergötzt von
dieſer Szene. „Wie zartlich!“ flüſterte
ſie ihrem Gatten zu. Dieſer antwortete
darauf nur mit einem Achſelzucken, küßte
ſeine Mutter förmlich auf die Wange und
ſtellte den Damen ſeine Fran vor, die von
denſelben mit jener ſtudirten Höflichkeit,
welcher man ſogleich anmerkt, daß das
Derz keinen Antheil dabei hat, begrüßt
wurde. Das ſtolze Weib fühlte ſich da·
durch beleidigt, obſchon ſie ſich bewußt
war, keinen beſſeren Empfang verdient zu
haben, da ſie ſeit ihrer Verheirathung
ihrer Schwiegermutter nur ein einziges
mal geſchrieben hatte. Unter dem Vor
wand der Ermüdung drückte ſie den
Wunſch aus, die Haushälterin möchte ſie
nach ihrem Zimmer führen.
„Die Haushälterin bin ich ſelbſt,“ ver—
ſetzte Mrs. Bentley mit Würde. „Ich
will dies beſorgen.“
John Bentley biß ſich auf die Lippen
und begrüßte aus Aerger Friedrich mit
mehr als gewöhnlicher Gleichgültigkeit
weil er wußte, daß er damit der Mutter
in's Herz griff.
Die Begegnung zwiſchen den beiden
Brüdern mar gleichfalls kalt, da der äl
tere Bruder den warmen Willkommen
des jüngeren durch die gemeſſene Anſprache
und Hinbitten der behandſchuhten Hand
zurückſtieß. Es war überhanpt ein ſelt
ſames Wiederſehen auf der einen Seite
Gleichgültigkeit, auf der anderen das Ge—
fühl unverdienter Vernachläſſigung und
Liebloſigkeit. Bei Tiſch wurde es Niemand
behaglich, und alle waren unzufrieden.
„So kann's nicht fortgehen,“ ſagte Mr.
Bentley zu ſeiner Frau. „Lady Anguſta
ſtirbt ja vor langer Weile. Du mußt
Deine Freundinnen zu ihr einladen.“
„Ich habe keine mehr, “ lautete die ruhige
Antwort.
Abermals biß ſich ihr Gatte auf die
Lippe. „Glaubt ſie mir trotzen zu kön—
nen?“ dachte er. Und ein Läͤcheln über—
flog ſeine Züge, denn er erinnerte ſich, wie
ſie ganz durch die Umſtände von ihm ab—
hängig geworden war.
Ehe John Bentley von London abreiſte,
hatte er den Entſchluß gefaßt, ſeinem zwei
ten Sohn das wiederholt gegebene Ver—
ſprechen nicht zu halten, da ihn eine Kom
pagnonſchaft in dem Ankauf eines beden—
tenden Guts, den er beabſichtigte, beengt
haben würde, abgeſehen davon, daß er ſeine
abſolute Gewalt über Friedrich nicht aus
der Hand geben mochte. Gleich allen
ſelbſtſüchtigen Naturen liebte er es, den
Deſpoten zu ſpielen.
„Wir müſſen auf eine gelegenere Zeit
warten,“ ſagte er, als der Jüngling ihn an
ſeine Zuſage erinnerte. „Man kann jetzt
keine Aenderung vornehmen.“
„Und Ihr Wort, Vater?“
„Wird gehalten werden; aber das eilt
nicht ſo ſehr, lautete die Antwort. „Dein
Bruder beabſichtigt in ein anderes Regi
ment zu treten, und außerdem bin ich ſelbſt
noch nicht mit mir im Reinen, ob ich die
gabrit behalte, oder nicht.“ Die Aus
flucht war eben ſo gemein, als kränkend.
„Dann iſt es Zeit, daß ich für mich ſelbſt
etwas thue.“
„Wie beliebt. Ich habe nichts dagegen.“
„Vater,“ rief Friedrich in großer Auf
regung, „was habe ich gethan, daß ich wie
ein Fremder behandelt werde? Warum
dieſer auffallende Unterſchied zwiſchen mei
nem Bruder und mir? Habe ichs je an
Savannah, Ga., den 6. März 1872.
oder an Aufmerkſamteit für
Ihre ontereſſen fehlen laſſen?“
„Du vergißt, daß Gilbert der Aelteſte
liit~
„Soll ich deßhalb aus Ihrem Herzen
verſtoßen ſein?“
„Verſtoßen iſt ein hartes Wort,“ be·
merkte Mr. Bentley trocken.
„Sie haben es mir abgedrungen,“ ver—
ſehte der Jüngling bitter „Der Himmel
weiß, wie lange ich gegen die traurige
Ueberzeugung ankämpfte, daß ich keinen
Platz in Ihrem Herzen beſitze. a
Stellung iſt keine ſolche, die für einen
Sohn paßt; ich werde nicht viel beſſer ge·
halten, als ein bezahlter Diener.“
„Ou haſt meinen Entſchluß gehöoöͤrt,“ er
widerte der Vater, „und dabei bleibts.
Ueber was haſt Du Dich zu beklagen?
Stellnng? Das iſt Stolz, Zunge. Mit
den Salär, das Du erhaͤltſt, kannſt Du
gnt ansreichen; aber ausreichend oder
nicht, in Zeiten, wie die gegenwärtigen, iſt
an eine Zulage nicht zu denken.“
Mrs. Bentley kam in das Zimmer.
Sie erkanute aus Friedrich s glühendem
Geſicht und dem kalten, aber zornigen
Ausdruck in den Zügen ihres Mannes,
daß die Verſprechung zu keinem befriedi
genden Reſultat geführt hatte.
„Laß mich mit Deinem Vater allein?“
flüſterte ſie.
„Geben Sie ſich keine vergebliche Mühe,
Mutter; ſein Herz iſt gegen mich verſchloſ
ſen. ;
Auf eine Wiederholung der Bitte ent
fernte ſich Friedrich
„Es iſt unnütz, Marie,“ bemerkte der
Heuchler; „mein Entſchluß ſteht feſt. Er
hat die Achtung gegen mich verletzt.“
„Und verlezt Du ihn nie durch Deine
Liebloſigkeit ? entgegnete ſeine Frau ru—
hig.
Bentleh ſah ſie halb erſtaunt, halb be-~
luſtigt an.
„Bin ich nicht ein geduldiges, gehorſa
mes Weib geweſen?“ fuhr die arme Frau
fort, die nur mit Mühe ihre Thränen zu
rückzuhalten vermochte. „Iſt je ein Wort
des Vorwurfs über meine Lippen gekom
men? Ich habe ohne Klage jede Ver
nachläſſigung ertragen; aber bei Allem,
was ich durchgemacht, bei meiner geknick
ten Jugend, bei dem bitteren Erwachen
aus meinem Glückstraume beſchwöre ich
Dich, handle gerecht gegen Deinen Sohn.“
„Sage, gegen Deinen Liebling; für ſei
nen Bruder würdeſt Ou nicht ſo dringlich
das Wort nehmen.“
„Es gab eine Zeit, in welcher dieſer
Vorwurf getroffen haben würde; jetzt
aber gleitet er an mir ab, da er ungerecht
iſt. Hat ſich Gilbert je gegen mich wie
ein Sohn benommen, mir die Achtung
erwieſen, die einer Mutter gebührt?“
„Er bemerkte vhne Zweifel, daß Dir
Friedrich lieber iſt.“
„Unmoͤglich. Ich habe es jahrelang
vor mir ſelbſt verborgen. Doch wir ſpre
chen heute wahrſcheinlich zum letztenmal
über dieſen Gegenſtand. Für mich ſelbſt
Gercqugiri oder Mitleid von Dir zu
ſerflehen, würde ich für unter meiner
Würde halten; aber ich bin Mutter, und
n Mutterherz iſt ſtärker als der Stolz
loder die Empfindlichkeit. Gewähre mir
ſdie einzige Bitte, die letzte, die ich je an
Dich ſtellen will, John, und die lange,
traurige Vergangenheit, alles Unrecht, das
lich als Weib erlitten, ſoll vergeſſen ſein.“
„Nein.“
„Du willſt Friedrich nicht in s Geſchäft
aufnehmen, wie Du verſprochen?“
„Gewiß nicht.“
„Ueberlege wohl.“
„Pah! Ich glaube, die Madame will
mich einſchüchtern.“
„Nein, nur flehen, demüthig flehen,“
lentgegnete Mrs. Bentley in Thraͤnen aus
ſbrechend. „Du haſt den ganzen Reich
t: meines armen Vaters geerbt; ſei ge—
recht gegen ſeinen Enkel.“
„Ich bin gerecht,“ verſetzte der Heuchler,
welcher des Auftritts ſatt zu werden be—-
gann. „Wenn mein Entſchluß Dir als
hart erſcheint, ſo haſt Du's nur Deiner
unnatürlichen Vorliebe für den jüngeren
Sohn zu danken; ſchon ſeit Jahren ſteht
es bei mir feſt, die I tereſſen ſeines Bru—
are zu ſchützen. Keine ſolche Narrhei
ſten fuhr er fort, als ſein Weib ſich ihm
ſzu Füßen werſen wollte. „Wenn du!
wüßteſt, wie ich ſolche Szenen verabſchene,
jo würdeſt Du mich nicht damit behelli
gen wollen.“
Mrs. Bentley trocknete ihre Thränen
ſund verließ das Zimmer.
„Glaubt, mit einer Rü—hrſzene ſei es ab
gethan“ brummte Jehn Bentley vor ſich
ſhin. „Doch muß ich ihr die Gerchtigten
widerfahren laſſen, es war ihre erſte Thor
heit und wird hoffentlich auch ihre letzte
ſin Eine falſche Anſchauung; ſie war
ſich noch einer anderen bewußt, deren Fol
gen den ganzen Jammer ihres Lebens
ausmachte.
„Mutter!“ rief Friedrich, ſie zärtlich!
unarmend, als ſie in das Beſuchzimmer
zurückkam, „Sie haben ſich vergeblich vor
ihm gedemüthigt.“
„Das Ungehener!“ rief Miß Weſtbury.
„Ach, wenn Dein armer Vater ſehen
köͤnnte —“
„Bot!“ unterbrach ſie die Nichte. „Kein
Wort. Ich bedarf meiner ganzen Kraſt,
dieſen Schlag zu ertragen. Nicht
wahr, lieber Friedrich, Da verläßt mich
nicht?“
Sie verlaſſen?“ entgegnete der Jüng—
ling. „Nicht um die ganze Welt könnte
ich dies. Ich bleibe Ihnen nahe, wo Sie
auch ſein mögen, um ſie ſchützen zu koön
nen in Ihrem Leide.“
Die Mutter warf einen Blick ſtolzer
Liebe auf den Sprecher und verließ das
Zimmer, um in der Einſamkeit ihres
Kämmerleins ſich durch Gebet zu ſtärken.
„Die arme Marie!“ ſenfzte Miß Weſt
bury. „Ich fürchte, dieſer Schlag iſt zu
ſchwer für ſie geweſen.“
„Ich will ihn ihr zu erleichtern ſuchen,
indem ich meinen eigenen Kummer ver·
berge,“ verſetzte Friedrich.
„Guter, edler Junge!“ rief die Tante.
„Ach, daß ich auch ſo einfältig ſein mußte!“
„Sie, Tante? Was meinen Sie da
mit?
„O, nichts nichts Beſonderes. Es
gibt keinen Menſchen, der nicht etwas zu
bereuen hätte.“ Sie meinte die Verfü
gung über ihr Vermögen, von dem Frie—
drich Bentley nicht die mindeſte Ahnung
i
Laor Auguſta die ihren Beſuch bei
ſihres Mannes Mancheſter -Verwandten
ſbereits zu bereuen begann, zeigte bei Tiſch
eine große Verſtimmtheit, weil ihre Schwi—
egermutter und Miß Weſtbury weggeblie—
ben waren, und ließ mehr als einmal
merken, daß ſie darin einen Mangel an
ſder gebührenden Achtung erkenne. John
Bentley kniff die Brauen zuſammen und
würde das hochmüthige Weſen der jungen
Dame gerügt haben, wenn ihn nicht ſeine
ee Zuneigung zu Gilbert angehalten
hätte,
„Meine Mutter iſt unwohl,“ bemerkte
Friedrich ernſt.
„Und wahrſcheinlich ihre Tante auch?“
verſette die Lady ſpöttiſch und fuhr, ohne
auf den abmahnenden Wink ihres Gatten
zu achten, fort: „Ich kannn ein ſo plötz
liches Unwohlwerden nicht begreifen. In
dem Kreis, in welchem ich mich zu bewe—
gen gewohnt bin —“
„Erlaube mir die gnädige Frau Schwie
gertochter eine kleine Verbeſſerung,“ un—
erbrach ſie John Bentley. „Sie wollten
ohne Zweifel ſagen in dem Kreis,
welchem mein Geld hnen
ſich zu bewegen geſtattet. Ent—
ſchuldigen Sie meine Unterbrechung,“
fügte er bei, indem er ſich mit ironiſcher
Höflichkeit verbengte.
„Vater, lieber Vater!“ rief Gilbert,
welcher den heftigen Charakter ſeiner Frau
ſkannte und daher eine Szene r Gean
„Sie mißverſtehen Auguſta.“
„Glaube kaum,“ lantete die Erwide—
rung. 1
„Gilbert,“ ſagte die Gnädige mit eiſi
ger Würde, „ich bin nicht nach dieſem
Krämerneſt gekommen, um mich beſchimp
zu laſſen.“
„Meine Liebe!“
„Sie können hier bleiben oder nicht,
wie Ihnen beliebt; ich aber kehre morgen
nach London zurüeck.“ Mit dieſen Wor
ten erhob ſich die ſtolze Schönheit vom
Tiſch und verließ das Zimmer.
„Ein angenehmer Beſuch,“ n
John Bentley.
„Sehr,“ pflichtete ſein Aelteſter bei.
„Und daran iſt Niemand ſchuldig als
Du, Burſche, der Du Deine Mutter und
Miß Weſtbury verleitet haſt, m ich re—
ſpektswidrig zu behandeln. Aber damit
lerreichſt Du nichts, kann ich Dir ſagen.
Kein Wort! Wenn das morgen nicht
anders kommt, ſo werde ich meiner Fa—
milie zeigen müſſen, wer Herr und Mei
ſter iſt“ ;
Und es kam anders, nur nicht gerade
ſſo, wie der Sprecher meinte. Um dem
unnatürlichen Vater nicht weiteren An
laß zu geben, verließ Friedrich ſogleich
nach dem Diner das Haus und eilte nach
der Wohnung Ellen's, die ihn mit Unge
duld erwartete, aber ſchon in ſeiner Miene
die Botſchaft, die er ihr brachte, leſen konnte
Unter Thränen warf ſie ſich ihm an die
Bruſt.
„Du vertrauſt mir noch immer?“
Za “ flüſterte ſie.
„Dein Vertrauen ſoll nicht zu Schan—-
ſden werden,“ ſagte Friedrich lächelnd.
„Morgen führe ich Dich nach Mancheſter.“
„Morgen?“ wiederholte Ellen hocher
ſfrent. „Morgen!“ Sie konnte den gan—
ſzen Tag an nichts Anderes denken, legte
ſich mit dieſem Wort zu Bette und lis—
pelte es ſogar in ihren Träumen.
Nur mit Mühe hatte Mrs. Hannan
ihrem Gatten das Verſprechen abgerungen,
nicht mehr mit dem alten John vor dem
Spital aufzuſpielen; ihr Stolz und ihre
Liebe empoörte ſich bei dem Gedanken an
die Demüůthigung des Mannnes, der ihr
ſo thener war. Und doch mußte etwas
geſchehen, um das bleiche Geſpenſt, den
Hunger, abzuwehren, der ihr bereits aus
den eingeſunkenen Augen ihres Sohnes
und aus den hohlen Wangen der ſtumm
duldenden Wittwe entgegenſtarrte.
„An mir liegt nichts; ich habe meine
Zeit ausgelebt,“ pflegte Letztere zu ſagen;
„aber es iſt hart, mit anſehen zu müſſen,
wie mein Herzens-Willie und der Knabe
ſimmer magerer und magerer werden.
Ich hoffe— der Allmächtige ruft mich zu
erſt ab, denn ich bin nichts mehr nutz und
euch nur noch eine Laſt.“
(Fortſetung folgt.) :
Der Salonwagen des Reichskunzlers
Bismart.
Die von den dentſchen Eiſenbahngeſell
ſchaften dem Kanzler des Deutſchen Reiches
geſchenkte Salonwagen, eine tüchtige Lei
ſtung der Technik, ausgeſtattet mit edlem
Geſchmack, iſt vor einigen Tagen aus der
Fabrik der ,„Aktiengeſellſchaft für Fabri—
kation von Eiſenbedarf“ (frůher Pflug)
hervorgegangen und am 19. Januar einſt
weilen der Berlin- Hamburger· Bahn über
geben. Am 20. wurde die erſte Probe~
fahrt vorgenommen, und es ſoll, wie die
betreffenden Beamten verſichern, der Gang
des Wagens ſich durch beſondere Leichtig
keit und Ruhe auszeichnen.
Das Außere deſſelben macht einen ſehr
angenehmen Eindruck; überall dem tech
niſchen Urtheil reichlich genügende und
zugleich dem Auge wohlthnende Verhält
niſſe; nirgends überladene Decoration,
ſondern vornehme Einfachheit. Auf zwei
mit gewöhnlichen Seetorrädern verſehenen
Gußſtahlachſen ruhen ſolide eiſerne Laͤngs
träger, welche (wie überhaupt die unteren,
tragenden Conſtruetionstheile, Achsgabeln,
Gehänge u. ſ. w.) ſchwarz gehalten ſind,
während nur die von den Trägern vor
ſpringenden Conſole und die ſchlanken
Federn durch blaue Färbung mit wenigen
heoen ourn ferner die tüchtigen Achs—
buchſen durch Bronzierung vortheilhaft
abgehoben werden
Die Seitenfront des ſich hierauf bauen—
den Wagens enthält 7 Fenſter mit gro
ßen Spiegelſcheiben, wobon die beiden
äußeren den Eingangsthüren angehören,
zu denen bequeme, mit rothem Sammet
beſchlagenene Falltreppen hinaufführen,
ſo daß man kaum der Stütze des zierlich
gearbeiteten, vergoldeten Handgriffes beim
Einſteigen bedarf. Neben jeder Thür iſt
eine prächtige Laterne mit ſilbernem Re—
flector angebracht, welche ihr Licht durch
ſchön geſchliffene Cryſtallgläſer hinaus~
wirft. Es wird in dieſen Laternen, wie
überhaupt in allen Lampen des Wagons,
Stearin gebraunt, mit der Einrichtuug,
daß eine Spiralfeder die Kerze aus einer
Hülſe, mit dem Verbrauch der Flamme
Schritt haltend, beſtändig vorſchiebt.
Die Grundfarbe des Wagens iſt ein
ſchönes Dunkelblan, worauf Bergoldung
in ſchwarzen Streifen als Umrandung
der Fenſter und Thüren, als Verzierung
der etwas vorſpringenden, zinnenartigen
Verdeckſimſes angebracht iſt, während ſich
unter dem Mittelfenſter jeder Seitenfront
das fürſtliche Wappen zeigt mit deſſen
Deviſe: „in trinitate robur.“
Ein beſonderes Wohlgefallen an der
ſchönen Form erregt der ſanfte Bogen der
Federn. Bei weiterer Betrachtung begeg~
net man noch anderen praktiſchen Einrich
tungen. Zwiſchen beiden Achſen beſindet
ſich ein ſchwarzer geräumiger Kaſten von
Eiſenblech, der die ganze gern des Wa—
gens einnimmt und dem Beſchauer ſofort
in die Augen fällt. Es iſt dies der Ge—
päckkaſten, wozu die genau hineinpaſſenden
Koffer noch nachträglich zu liefern ſind,
welche beſonders für den Fürſten einge
richtet werden. An beiden Stirnſeiten
des Wagens zeigen ſich Einrichtungen,
die eine Verbindung mit anderen Salon—
wagen zulaſſen, falls ſich einmal die Noth—
wendigkeit einer ſolchen herausſtellen ſollte;
alſo Thüren und die nöthigen Hacken für
die in dieſem Falle einzuſchaltende Ver
bindungsbrücke.
In der Höhe des Fußbodens bemerkt
man die Verſchlnßklappen der Heitzvoͤrrich
tung. Die Heitzung geſchieht vermittelſt
der in neuerer Zeit bei vielen Bahnen ge—
bräuchlich gewordenen präparirten Kohle,
welche ſich dadurch auszeichnet, daß ſie
leicht, ohne eines bedeutenden Luftzuges
zu bedürfen, verbrennt und nur wenig
Gaſe und Aſchenbeſtandtheile hinterläßt.
Die Heizvorrichtung iſt in den Räumen
des doppelten Fußbodens angebracht, in—
dem rechtwiukelige, röhrenartige Käſten
von Eiſeublech, mit Roſten verſehen, ſich
durch die Breiten des Wagens ziehen; auf
den Roſt werden die dagene geſchoben,
verpackt in einem Heizkorb aus Draht.
Unten an dem Heizkaſten befinden ſich ei
nige Zugröhren, welche ins Freie münden.
Durch dieſe Heizkäſten ie ort umliegende
Luft erwärmt und dringt durch Oeffnun—
gen in die Räume des Wagens ein. Der
Kohlenvorrath wird in emem Behältniß
auf dem Verdeck mitgeführt
Ebendort bemerken wir feruer eine An
zahl kleiner Abzugsrohre mit Windflü
geln. Es ſind dies Ventilationsvorrich
tungen für die inneren Räume des Wa—
gens. Deu beiden, zuletzt beſprochenen
Vorrihtangen begegnen wir im Innern
noch einmal.
Beim Eintritt in den Wagen gelangt
man zuerſt in den, drei Fenſter der Sei
tenfront einnehmenden Salon der Füůrſtin.
Weiche und ſchwere geblümte Teppiche be
decken den Fußboden; eine Vertäfelung
(aus Mahagoniholz gearbeitet, wie über
haupt alle ſichtbareHolzarbeit des Wagens)
zieht ſich in der Höhe bon etwa 3 Fuß an
den Wänden herum. Die Tapete beſteht
in einer Polſterung, bedeckt mit blaß
rauem Seidenttel: etwas lichter iſt die
artun der Decke, um welche ſich eine
ranzdecoration zieht, Lorbeer· nnd Ei-
I. Stern, Herausgeber.
No. 46.
chenblätter in Gold auf blauem Grund
bezeichnet, zwiſchen derſelben wiederkehrend
das fürſtliche Wappen. Durch die ſechs
Fenſter des Gemaches ſtrömt helles Licht;
man iſt jedoch im Stande, vermittelſt
ſtellbarer Holzjalouſien das Licht beliebig
zu reguliren, oder auch durch das Herab
laſſen der ſchweren gelbgraunen Seidenvor~
hänge vollſtändig zu dämpfen. Am Abend
geſchieht die Beleuchtung durch vier an—
muthige, reichvergoldete, doppelarmige
Wandlampen mit Kugelglocken von Milch-~
glas, welche, je nachdem man das Licht
zu mildern oder zu verſtärken beabſichtigt,
auf und nieder geſchoben werden können.
Im Uebrigen findet ſich Garderoben—
Comfort, wie ſeidene Netraufen und ver
goldete Huthacken, beqnem an den Wän—
den vertheilt.
Aus der Vertäfelung vorſpringend,
zeigen ſich die beiden Heizſchränkte dieſes
Gemaches, ſehr hübſch in der Form von
Kaminen gehalten, durch deren bergoldete
durchbrochene Gitterthür die Luft des Sa
lons mit den Heitzkäſten in direkter Ver
bindung ſteht. In der Mitte der Decke
befindet ſich eine vergoldete Ventilations—
Drehkuliſſe, welche aufgedreht einen Aus—
taunſch der innerea gegen äußere Luft be—
werkſtelligt. Außerdem ſind noch die ge
wöhulichen Ventilations · Schiebekuliſſen
über den Fenſtern vorhanden. Ein an
der Wand angebrachtes zierliches Thermo
meter giebt den Grad der Temperatur an,
welche man durch die beiden Faktoren
Heitzung und Ventilation zu reguliren
im Stande iſt.
Das Mobiliar beſteht in einem beque—
men Sopha mit Rückenkiſſen und Kopfkiſ
ſen, Lehnſtühlen, Tavonrets, ferner aus
einem großen, bequemen Schlaflehnſtuhl,
aus dem eine Schieblade ſich unten vor
ziehen läßt und ſo den Stuhl zum Lager
berlängert. Unten im Sopha beſiudet ſich
ein Raum zur Aufnahme von Decken und
allen den Gegetſanden. welche ein Bett
verlange. Die Bezüge des Mobiliars be
ſtehen aus grauem Sauet, harmonirend
mit dem Farbenton der Tapiſſerie.
Außer einigen kleinen, marmornen
Wandtiſchplatten vervollſtändigt die Ein
richtung des Gemaches ein zierlicher mit
blauem Tuch bezogener Spieltiſch, zum
Aufklappen eingerichtet, an deſſen vier
Ecken ſich Einläſſe befinden, in welche ſil
berne Aſchbecher und Lenchter, die ihren
Platz ſonſt auf dem Caminſims haben,
nachdem ſie von ihrem Fuße geloͤſt ſind
vermittelſt eines Bajonetverſchluſſes ein
geſetzt werden können. Der Geſammt
eindruck, den der Salon mit ſeiuen meiſt
gebrochenen Farben, ſeinen zierlichen, be
quemen Mobilien macht, iſt der eines
vornehmen, feinen Geſchmacks. Die Wahl
der Farben und Stoffe iſt denn auch von
competenteſter Stelle getroffen.
Vom Salon tritt man durch den kleinen
ein Fenſter der Front einnehmenden Toi
lettenraum, worin beſonders die anmu
thige Einrichtung des Eckwaſchtiſches be
merkenswerth iſt, in das Arbeitszimmer
des Fürſten. Manche Einrichtung des
kleinen Toilettenzimmers iſt für den prae
tiſchen Techniker von großem Intereſſe,
ſowie auch dem Schönheitsſinn hoch er
freulich. Der kleine Raum wird durch
eine Thür in zwei Theile getheilt, außer
dem ſind zwei einander gegenüberliegende
Thüren vorhanden, von denen die eine
zum Salon, die andere ins Arbeitszimmer
des Fürſten führt.
Beſonders einnehmend iſt ferner der
Eindruck, den man beim Betreten des Ar
beitszimmers des Fürſten empfängt, eines
kleinen, zwei Fenſter der Front einneh—-
menden behaglich eingerichteten Gemaches.
Wir finden n dieſelben dicken Fußtep—
piche, dieſelben Jalouſien, Fenſtervorhänge,
Lampen, Ventilationsvorrichtungen, ſei
denen Netzraufen und Huthacken, wie im
Gemache der Fürſtin, welche Einrichtung
überhaupt durchgehend ſind ; dagegen fällt
die Wandvertäfelung fort, die Tapiſſerie
zieht ſich bis an den Fußboden hinunter;
die Farbe des hierbei verwandten, gleich
falls grauen Seidenſtoffes iſt nicht ſo zart,
dunkler und intenſiver als im Salon; der
nämliche Seidenſtoff bekleidet auch die
Decke. Das Mobiliar beſteht nur aus
Lehnſtuhl und Sopha, mit ſolidem, brau
nen Saffian überzogen. Das Sopha iſt
breit, lang und behaglich: wenn man
ſteht, zum Sitzen, und wenn man ſitzt,
zum Liegen einladend, einem Vielbean—
ſpruchten und Sorgenvollen ſanfte Stun
den des Ausruhens verheißend.
An einer Stelle des Fußbodens läßt
ſich der Teppich lo eine kleine
Klappe öffnet ſich und der kleine Reiſe
weinkeller mit verſchiedenen Eiuſätzen und
Abtheilungen wird ſichtbar, worin auch
Eis und Lebensmittel Platz ſinden können.
Zu jeder Seite des Gemachs führen
die Thuͤren in das Freie. Hiermit iſt die
lohnende Beſchäftigung beendigt.
Mag es Salonwagen geben, deren
Ausſtaitung glänzender 2 prunkender
ſiſt, eine zweckmäßigere Einrichtung dürfte
nicht anzutreffen ſein. Und kaum findet
ſich wohl in beſchränktemßaum eine gleiche
Vereinigung des Behaglichen mit ſchön—
ſinniger Anordnungen. (D.R.A)