Newspaper Page Text
Sarannah Abend Zeitung.
Prof. C. I. Vanſemer, Redakteur.
2. Jahrgang. No. 8.
Kette und Einſchlag.
Eine Erzählung aus der Zeit der Baumwollennoth
in Mancheſter
von
Smittn.
(Fortſehuna.)
„Darf ich fragen, ob Sie dieſes zweite
Anſinnen ebenfalls abgelehnt haben?“
„Nicht poſitiv,“ erwiderte Twiſſelton.
„Ich bin ſeines Vaters Rechtsfreund,
und konnte eine Angelegenheit die ihn be~
trifft, nicht zurückweiſen jedenfalls
nicht im Intereſſe einer andern Partie.
Die Sache bleibt daher · bernhen, bis ich
von ihm gehört habe.“ ;
„Und Sie wollen in dieſem Fall ſo
freundlich ſein mich davon in Kenntniß zn
ſetzen?“
„Zuverläſſig.“
„Beiläufig,“ ſagte Mr. Aſhton, „Sie
haben vielleicht die Güte, mir zu ſagen
unter welchem Vorwand oder Rechtotitel
Lieutenant Bentlez die Kopie von dem
Teſtament ſeines Großvaters anzufechten
beabſichtigt. Er hat kein direktes Inter—-
eſſe bei der Sache.“
„Er allerdings nicht,“ antwortete der
Advokat, „aber ſeine Frau.“
„Lady Anguſta?“.
„Ja. Ihr Leibgeding iſt auf das Man—-
cheſter · Eigenthum verſichert, und wenn
das Teſtament von Gerichtswegen aner
kannt wird, ſo ſind ihre Anſprüche nicht ſo
viel werth als das Pergament, auf dem
ſie ſtehen.“
„Ich begreife,“ ſagte der Fabrikant, in~
dem er ſeine Börse herausnahm, um dem
Advokaten ſein Honorar zu reichen.
„Ein ander mal mein lieber Herr
ein audermal. Ich kann es wahrhaftig
mit gutem Gewiſſen nicht annehmen,“
rief Mr. Twiſſelton lachend. „Vielleicht,“
fügte er unbekuümmert bei, „brauchen Sie
im Verlauf meine Dienſte in einer an
dern Angelegenheit; wir können es dann
ausgleichen.“
„Vielleicht,“ wiederholte Mr. Aſhton
gedankenvoll vor ſich hin, während er
das Burean des Rechtsgelehten verließ.
Siebenundfünfzigſtes Kapitel.
Erſt nachdem der wüthende Lientenant
bei mehreren der ausgezeichnetſten Juri—
ſten rechtliche Gutachten eingeholt hatte,
gab er den Gedanken ans, das Teſtament
Michael Haman's anzufechten von dem er
ſich nach Art aller getäuſchten Erben höol—
liſch ſchlecht behandelt glanbte. War von
ſeiner Seite nicht Alles geſchehen, zu was
ſich ein Gardeoffizier, der ſeine Achtung
beweiſen wollte, herablaſſen konnte, indem
er das Hundeloch in Mark Lane beſuchte,
dem Sterbenden die auserleſenſten Früchte
brachte und ſich ſogar durch die Beglei—-
tung eines zweiſpännigen Leichenwagens
der Gefahrt ansſette, ſeine Kaſte zu verlie
ren? Nein es war ein himmelſchreiender
Undank von Seiten des alten Sünders,
der eine ſolche Aufopferung nicht einmal
mit einem lumpigen paar tauſend Pfun
den anerkannte —,entſchieden niederträch
tig!“ wie Lady Auguſta in ihrem Zorn
erklärte.
Das Teſtament wurde natürlich aner
kannt, und Friedrich Bentley ſah ſich nicht
nur in einen ungemein reichen Maun, ſon
dern auch vermöge hoher Genehmigung
in einen Friedrich Haman umgewandelt,
wie es die letztwillige Beſtimmung des
Erblaßers forderte. Seine erſte Hand—
lung war, daß er Miß Weſtburh die
Summe zurückerſtattete, welche dieſe wa—
ckere Dame auf ſeinen Vater hatte über—
ſchreiben laſſen.
„Ich nehme es nicht,“ rief die alte
Jungfer, ob dieſem unerwarteten Beweis
ſeiner Liebe zu Thränen gerührt. „Willſt
Du mich in meinem Alter noch zum Ge—
genſtand der Spekulation machen? Ich
wüßte nicht, was ich mit dem Geld an—
fangen ſollte!“
„Ihr Herz wird Sie's lehren,“ verſetzte
der junge Mann mit Wärme.
„Ich ſage Dir, ich kann es nicht anneh—~
men.“
„Er übt nur Gerechtigkeit gegen Sie,“
ſate Mrs. Bentley; „aber da das Opfer
meinem Glück gebracht wurde, ſo ſollte
die Erſtattung von mir ausgehen.“
„Aunch Du, Marie?“
„Sie müſſen es annehmen,“ ergriff
Ellen liebkoſend das Wort. „Was könnte
Friedrich mit dem großen Reichthum an—
fangen?“
„Haſt Du nie von Diamanten gehört,
meine Liebe, von Kaſchmirs, von Equipa
gen und der ganzen Livre des faſhionab—
len Lebens?“ fragte Miß Weſtbury.
„Wohl, und Sie nennen dieſe Dinge
mit Recht eine Livre, denn ſie ſind die
Abzeichen der Knechtſchaft. Was ſollen
mir Diamanten und Kaſchmirs, mir, der
Niedriggebornen und in der Schule der
Dürftigkeit und Arbeit Erzogenen? Es
wäre weggeworfenes Geld. Nein, liebe
Tante, Friedrich hat mir etwas Beſſeres
verſprochen eine Heimat für meinen
armen blinden Vater, Ruhe für meine
liebe leidende Mutter, Unterricht und eine
Laufbahn für meinen edelherzigen Bruder.
Mit einem ſolchen Segen,“ fügte ſie durch
ihre Thränen lächelnd bei, „bedarf ich kei
ner Edelſteine.“
„Du haſt recht,“ ſagte Miß Weſtbury;
„ſie wären überflüſſig.“
Friedrich hielt Wort. Nach Manche—
ſter zurückgekehrt, kaufte er einen ſchönen
Landſitz, den er mit ſeiner Gattin, ſeiner
Mutter und der Tante bezog, und für
die Bewohner des Häuschens in Tibbs
Lane eine unsern gelegene Behauſung, in
deren Naähe ſich auch für den blinden John
eine Herberge fand; denn der alte Mann
ſollte das Glück ſeiner Freunde theilen.
In dem Frieden, der über den beiden Fa
milien waltete, begann Mrs. Bentley ſo—
gar der Schreckbilder, die ſie umſpukten,
zn vergeſſen; aber leider war es nur die
Windſtille vor dem Sturm.
Friedrich kam zweimal in der Woche
nach Mancheſter, nicht nur, um nach den
mit der Erbſchaft verbundenen Angele
genheiten zu ſehen ſondern auch um
Werke der Barmherzigkeit zu üben. Un—
ter den Namen der Wohlthäter, welche
das Elend der Baumwollennoth zu mil
dern bemüth waren, ſtand der ſeinige ob—
enan, und ſeine Erfahrung leiſtete bei den
Anorduungen häufig noch werthvollere
Dienſte als das Geld. Die Geſinnungs—
enoſſen, mit denen er wirkte, fühlten die
gale der Arbeit, und ſuchten den
Charakter der Arbeiter mehr durch Be—
ſchäftigung zu heben, als durch Almoſen
niederzudrůcken. Nach einem ſolchen Lie
besgang machte er einmal auch bei Mr.
Aſhton einen Beſuch.
„Um welche Zeit ſind ſie von Haus
fort?“ fragte der Fabrikant. „Vor An—
kunft der Poſt?“
„Ja. Warum fragen Sie?“
„Weil ich Briefe von London erhalten
habe,“ verſetzte Mr. Aſhton düſter. Fried
richs Herz klopfte. „Gegen das Teſta—
ment Ihres Großvaters wird Einſprache
erhoben,“ fügte der Sprecher bei.
„Von Gilbert? Ich glaubte, es ſtehe
ihm keine Berechtigung zu!“
„Nein, von den Verwandten der Lady
Auguſta, welche wiſſen, daß ihr Leibge—
ding auf das Eigenthum in Mancheſter
gutgeſchrieben iſt. Ich zweifle, ob von
ihren hochwohlgebornen Onkel und Brü—
dern ſich einer aus Liebe viel um ſie küm—
mern würde; aber ſie fürchten, die Dame
könnte ihnen wieder zur Laſt fallen.
Wäre das Originalteſtament zur Hand, ſo
wären alle ihre Bemüůhungen eitel.“
„Aber es leben ja noch die Zeugen,“
rief der junge Mann.
„Willie iſt blind,“ verſetzte Mr Aſhton
„und Ihr Vater nirgends aufzu—
finden.“
Dieſer Bemerkung folgte ein langes
Schweigen. Friedrich unterbrach es zuerſt.
„Meine arme Mutter!“ ſeujzte er.
„Nach ſo vielen Prüfungen hat ihr Herz
kaum erſt Ruhe gefunden, und ſoll nun
wieder in den Stürmen des Lebens aus—
geſetzt werden die ſie aufreiben. Wir be—
abſichtigen ja, alsbald nach Erledigung
dieſer Erbſchaftsangelegenheit das Leibge—
ding meiner Schwägerin zu beſtätigen.“
Bu ſpãt“ berſehte Mr Aſhton.
„Warum zu ſpät? Was kann ſie mehr
verlangen?“
„Ihre Ehre, die meinige, die Ihrer
Mutiter.',
„Ich verſtehe Sie nicht.“
„Es wird Ihnen bald klar werden.
Die Einrede behauptet, daß das angeblich
verlorene Teſtament eine ſchamloſe Fäl-~
ſchung ſei.“
„Das können, das wagen ſie nicht —“
„Sie können und wagen,“ unterbrach
ihn der Fabrikant. „Wo ſichs um Geld
handelt, hören die Bande der Verwandt.
ſchaft auf. Die Beſchuldigung muß mit
allem Ernſt und ohne Ruͤckſicht auf die
eigenen Gefühle zurückgewieſen werden.“
„Mr. Aſhton entgegnete Friedrich in
großer Aufregung, „Sie ſind der Freund
meines Großbaters geweſen und haben
ſich wiederholt auch als der meinige erwie—
ſen; darum will ich unverholen meine Ge—
danken gegen Sie ausſprechen. Soll
darf ich als Sohn der Gefahr dieſes Pro
zeſſes mich unterziehen ?“
„Zum Glück brauche ich dieſe Frage
nicht zu beantworten,“ lautete die Erwi—
derung. „Als Exekutor iſt meine Pflicht
klar und einfach.“
„Aber Sie werden von ihr Umgang
nehmen?“ ~
„Nein.“
„Auch nicht, wenn ſich's um die Ehre
der Familie handelt?“
„Auch nicht; Sie haben kein Recht,
dies von mir zu verlangen. Sie vergeſ
ſen, daß ich Kinder, Enkel habe, und daß
ich meinen Namen nicht mit dem Brand—
mal der Fälſchung belaſtet laſſen kann.
Zudem iſt mir die Gefahr, von der Sie
ſprechen, nicht ſo klar.“
„Diejenigen, welche auf dieſen ſchändli
chen Vorwand hin handeln, wiſſen wohl,
was ſie thun. Sie rechnen auf unſer
Schweigen und unſere Verzweiflung.“
„Mit nichten,“ verſetzte Mr. Aſhton.
„Weder Lady Auguſta noch ihre Rathge—
ber haben, davon bin ich üůberzeugt, eine
Ahnung von der Gefahr, die Sie meinen.
Ich fürchte nur die Advokaten. Iſt die
Sache einmal in ihren Händen, ſo weiß
Gott, wie ſie enden wird. Was aber der
Ausgang ſein mag, mein Name darf nicht
bemakelt werden.“ Sein Beſuch bedeckte
das Geſicht mit den Händen und ſank auf
einen Stuhl. „Seien Sie vernünftig,
Friedrich,“ fuhr der Sprecher fort. ~ Drei
Erreori~. entehrt ſtatt einer daran iſt
Savannah, Ga., den 12. Inni 1872.
nicht zu denken. Ueberlaſſen Sie die
Sache mir. Ueberhaupt ſteht es weder
in Ihrer noch in Ihrer Mutter Macht,
ſich einzumengen, da mich Michael Ha—
man's Tod zum alleinigen Exekutor macht.
Ich gehe morgen nach London.“
„Soll ich Sie begleiten?“
„Es wäre unnuͤtz. Ich werde mit
meinem Advokaten, vielleicht auch mit
dem Ihres Vaters Rückſprache nehmen ?“
„Mit Mr. Twiſſelton?“
„Ja. Es iſt nicht das erſte Mal, daß
ich mit ihm zuſammentreſfe. Er beſitzt
das Vertrauen ſeines Klienten und hat
wahrſcheinlich inzwiſchen von ihm gehört.
Es iſt die einzige Ausſicht, dieſe Angele
genheit zu endigen, wie wir Beide wün—
ſchen!“
„Ich begreife. Sie fürchten, wie ich
daß —“
„Es iſt beſſer, jeder behält über dieſen
Gegenſtand ſeine Gedanken für ſich.
Wir verſtehen einander ſchon. Sie dür—
fen darauf zählen, daß ich zu jedem
Opfer bereit bin, nur nicht zu dem mei—
ner Perſon.“ Friedrich drückte ihm ſchwei—
gend die Hand. „Haben Sie noch etwas
anzudenten?“
„Scheuen Sie keine Koſten. O, wie
wird dieſes Geld mir verhaßt. Sie
ſchreiben mir doch?“
„Täglich.“
„So ſchieden ſie, der Fabrikant, um ſich
zu der Reiſe nach London vorzubereiten,
ſein Gaſt, um ſchweren Herzens nach Haus
zurückzukehren. Ach, der arme mußte
ſchweigen und ſeinen Kummer allein tra~
gen, denn es wäre grauſam geweſen, den
Frieden ſeiner Lieben zu ſtören.
Ellen hatte für ſeinen Empfang eine
kleine Fete zugerüſtet. Die Abendtafel
war in dem Hof unter einem großen
Maulbeerbaum gedeckt, und Alles, was
zu dem befreundeten Familienkreis gehörte
harrte ſeiner Ankunft.
„Du biſt traurig,“ ſagte die junge
Frau, zu ſeinem Antlitz aufblickend
„Der Anblick ſo vieler Noth, welcher
der beſte Wille nur Linderung, nicht Ab—
hülfe bringen kann, beküminert mich,“
verſetzte Friedrich ausweichend.
„Gott ſteh den Armen bei!“ rief der
blinde John. Sie haben ſchwer zu tra
gen; aber er waltet über uns.“
Mrs. Bentley betrachtete ihren Sohn
ängſtlich; er verſuchte zu lächeln.
„Ou haſt Mr. Aſhton geſehen?“ flü—
ſterte ſie.
„Nur auf einige Minuten.“
„Doch keine ſchlimmen Nachrichten?“
„Nichts von Belang, “antwortete Fried—
rich. „Sind Briefe da?“
„Ich will ſie holen,“ rief Martin, nach
dem Hauſe eilend.
Es war ein Glück, daß die Beſprechung
mit dem Fabrikanten Friedrich auf ihren
Inhalt vorbereitet hatte. Er las ſie ohne
eine Miene zu verziehen, da er wußte, daß
ängſtliche Augen auf ihm ruhten, und
ſteckte ſie in die Taſche. Seine Mutter
athmete freier.
Allmälig griff wieder eine gewiſſe Hei—
terkeit Platz; denn es war unmöglich,
daß der Mann, der ſoviel Glüůck verbreitete
nicht einen Theil davon in ſeinem Herzen
wiedergeſpiegelt fand. Willie und John
ſpielen ihre Lieblingsweiſen, und der
Reſt des Abends verlief ruhig.
„Entſchuldigen Sie Mr. Haman,“ ſagte
die Wittwe, ehe die Hannan ſchen aufbra—
chen, „wenn ich mir die Frage erlaubie
ob keine Nachrichten aus Amerika hier
ſind? Ich bin gewiß nicht undankbar
und erkenne, was der allmächtige an uns
gethan hat; aber ich möchte doch wiſſen,
ob es Beſſie und ihren Mann gut geht.
Um Sam bin ich unbekümmert, denn der
ſorgt ſchon für ſich ſelber aber Beſſie
und die Kinder.“
„Sie ſind ohne Zweifel wohl. Ihr
wißt ja, wies im Sprüchwort heißt:
Keine Nachricht iſt eine gute.“
„Wenn ich nur auch ſo denken könnte.
Ach, ich moöchte ſie wohl noch einmal ſe—
hen, ehe ich ſterbe.“
„Redet nicht von Sterben, Großmut
ter,“ ſagte Ellen, ſie küſſend. „Ihr ſeht
jünger und beſſer aus, als ich mir Euch je
denken kann, und ſie werden auch wieder
kommen.“ Die Wittwe ſchüttelte den
Kopf. „Friedrich hat mir's verſpro
chen flüſterte ihr die Sprecherin zu. „Bst!
kein Wort; es ſollte ein Geheimniß blei
ben, bis ſie da waren. Ihr ſeht, Ihr
habt mich ungehorſam gemacht aber ich
konnte dem Vergnügen, es Euch zu ſagen
nicht widerſtehen. Mein Mannn wird
mir böſe werden.“ Die letzten Worte
verriethen eben keine Furcht, denn der
Vorſchlag des Geheimhaltens war eigent
lich von ihr ſelbſt ausgegangen.
„Gott ſegne ihn dafür,“ rief die alte mit
einfacher Innigkeit, „und ſeine gute Mut
dazu. Sie hat keinen Stolz, und auch
Miß Weſtbury nicht, obſchon ſie von Ge—
burt aus vornehme Frauenzimmer ſind.
Ich hätte nie geglaubt, daß ich ſie lieben
könnte.“
„Sie nicht lieben?“ wiederholte Ellen
erſtaunt.
„Das iſt mein Geheimniß, Kind,“
ſagte die Großmutter, „und ich kann Dir's
nicht ſagen, wenigſtens jetzt noch nicht.
Wenn nur John Bentley wie ſein Sohn
geweſen wäre,“ fügte ſie in Gedanken bei.
(Fortſetzung folgt.)
Aus den letzen Tagen des
Kaiſers Max in Mexico.
(Von Julius Ulieznv.)
Die Belagerung von Queretaro dauerte
68 Tage, ſeitdem Kaiſer Maximilian ſich
daſelbſt feſtgeſetzt hatte. Der Prinz Salm.
Salm, der in der Potomac· Armee gedient
hatte, war ſein eigentlicher Generalsconſta—
belschef; Miramon hatte die Oberleitung
der militäriſchen Angelegenheiten, obgleich
der Kaiſer ſelbſt als Obergeneral an der
Spitze ſtand. Die Republikaner, welche
zu jener Zeit Queretaro belagerten, wur—
von Escobedo und Corona geführt. Esco-~
bedo befehligte 18,000, Corona 17,500
Mann, im Ganzen hatten alſo die beiden
Führer bei 35,000 Mann. Die Stärke un
ſerer Truppen, obgleich höher angegeben,
betrug in der That nicht über 6000;
denn die Franzoſen waren ja aus Mexico
abgezogen, freilich nicht mit Ruhm beladen
Die Inſurgenten hatten den Kaiſer end~
lich, wie Jäger einen Löwen, in die Höhle
hineingetrieben. Wenn er ſich nicht willig
feſſeln ließ, mußte er dort verhungern
oder unter den Kugeln ſeiner Verfolger
ſterben. Die Geſchütze der Belagerer
von Queretaro ſchwiegen, ſeitdem ſich die
Schatten der Nacht über das von den
dichten Wolken des verſchoſſenen Pulvers
erfüllte Thal geſenkt hatten. Freund und
Feind ruhte von des Tages blutiger Ar—
beit. Durch die menſchenleeren Straßen,
welche weithin von den herabgeſchoſſenen
Trümmern der; Dächer und Mauern be—
deckt waren, ſchritt ein dicht in ſeinen
Mantel gehüllter Offizier um die Ziun
mauern. Kein Laut unterbrach die Stille
der Nacht, nur in langen Zwiſchenräu—-
men ſchallte der vielſtimmig ſich wieder—
holende Ruf der Schildwachen aus beiden
Lagern. Ueber dem Gebirgskeſſel lag
tiefſchwarz die Nacht, nur der ferne Hori—
zont war von Wachtfeuern geröthet, in~
deß in der Nähe der Stadt einzelne
Flammen hoch loderten, welche auch die
Straßen beleuchteten. Hie und da beweg—
ten ſich vor dem rothem Scheine dort un—
ten kleine dunkle Geſtalten, ſie verſchwan—
den aber eben ſo ſchnell wieder im Dun—
kel der Nacht, als ſie daraus aufgetaucht
waren.
Langſam und geſenkten Hauptes, die
Hände auf den Rücken gekreuzt, ſchritt der
Offizier längs der zerſchoſſenen Ring—
mauern und Wälle, auf welchen hie und
da ein Trupp müder Soldaten lagerte,
welche bei ſeiner Annäherung ſchweigend
ihre Häupter entblößten und lange noch
dem einſamen Fußgänger nachblickten,
wenn er auch ſchon im Dunkel wieder
ihren Augen entſchwunden war. Es lag
in ihrem wortloſen Gruß dem Manne
gegenüber, deſſen Erſcheinung auch den
Muüdeſten elektriſirt hatte, in der Nennung
ſeines Namens, der wie eine geheime Lo—
ſung von einem Munde zum andern wei—
ter geflüſtert wnrde, eine erhabene Er—
furcht; es war ferner die Anerkennung
eines geliebten Meuſchen, vielleicht ſpie
gelte ſich auch darin die Liebe zu einem
braven Kameraden, der ſo manchen heißen
Tag in ihrer Mitte durchkämpft, ſo
manche ſchwere Nacht an ihrer Seite durch
wacht hatte und ſie auch hier in Queretaro
nicht einen Augenblick verließ.
Der Mann hatte ſeine Runde gemacht
und kehrte nach dem Kloſter La Cruz zu
rück, von welchem er ausgegangen war.
Auch hier noch ſetzte er ſeinen träumer“
ſchen, zögernden Gang fort und trat am
Ende des matt von wenigen Lampen er
hellten Ganges in eine der Zellen. Ein
ſtattlicher Offizier, in den beſten Jahren
ſtehend, mit einem franzöſiſchen Kuebel—
bart und in reicher Kleidung, ſaß an dem
kleinen Tiſche in der Ecke es war der
General Miramon und wandte ſich mit
achtungsvollem Gruße dem Eintretenden
zu. Dieſer legte Mantel und Käppi ab.
Es war der Kaiſer. Sein Ausſehen ſchien
ſich ſeltſam verändert zu haben. Es war
nicht mehr ein jugendkräftig ſtolzer Fürſt,
deſſen höchſtes Ideal in Ruhm nnd Größe
beſtand; es war ein abgemagerter Soldat,
mit geiſterbleichen Zůgen und düſterer
Entſchloſſenheit.
„Was gibt es Neues?“ fragte der
Kaiſer, ſeine Handſchuh ausziehend.
„Nichts von Wichtigkeit, Majeſtät,“
entgegnete Miramon, nur ein Todesur
theil bitte ich noch heute zu unterſchreiben,
da die Exeeution morgen früh um 4 Uhr
eriolgen muß.“
„Muß ?“ fragte der Kaiſer gedehnt.
„Wer iſt denn der Unglückliche ?“
„Leider ein kaiſerlicher Kapitän, Na—
mens Pedro Penna: er iſt überwieſen,
mit dem Feind correſpondirt zu haben;
ſeine Frau und ſeine Mutter leben hier in
Queretaro. Er iſt geſtern ertappt nnd
ſogleich vor das Kriegsgericht geſtellt
worden, welches ihn verurtheilte. Es
fehlt nur noch die Unterſchrift Eurer kaiſ.
Majeſtät!“
Es gibt im Leben eines Herrſchers Mo—
mente, wo ein unerbittliches Geſchick ihn
zwingt, Despot zu ſein, und wo, wenn er
es wagt, Gnade für Recht ergehen zu laſ—-
ſen er ein Verbrechen begeht. Zum
Beiſpiel, einen Spion begnadigen, iſt im
Kriege eine faſt unerhörte That, weil ſie
oft zur Meuterei unter den eigenen Trup
pen Anlaß gibt.
Der Kaiſer blickte durch die hohen Klo—
ſterfenſter hinaus in die öde, traurige
Stadt, hinaus auf jene důſteren Mauern,
welche ſein eigenes Gefängniß waren, und
er ſollte, er der Gefangene, einen Andern,
auch einen Gefangenen, hinrichten laſſen?
Wer weiß, ob nicht in kurzer Zeit Andere
über ihn Gericht halten werden! Der
Kaiſer war überwältigt von ſeinen Gedan
ken und Gefühlen, die ihm wie im Sturme
ſeine Vergangenheit, Bild an Bild ge—
drängt, an ſeinem Geiſte vorüberziehen
ließen. Er faltete die Hände und bliekte
důſter in die weite Sternennacht hinaus,
als verlange er von den blitzenden Ge—
ſtirnen einen Rath.
Plötzlich ſtand Miramon auf, trat vor
die Zelle und rief mit lauter Stimme ei
nen Namen, welcher im dreifachen Echo
in den verzweigten Kloſtergängen wieder—
hallte.
Gleich darauf erſchien der Adjutant
Miramons mit mehreren Aktenſtücken
unter dem Arme. Miramon nahm die
Papiere und übergab ſie dem Kaiſer mit
den Worten: „Majeſtäͤt, hier iſt das Pro—
tokoll des Kriegsgerichts über den Pedro
Penna, ich bitte um die Unterſchrift.“
„Koöunte man den Kapitän nicht be—
gnadigen?“ fragte der Kaiſer wie aus
einem Traume erwachend.
„Begnadigen?“ rief General Miramon
und blieb ganz erſchrocken ſtehen; „einen
Spion begnadigen?“
Selbſt der Adjutant blickte ganz erſtaunt
den Kaiſer an Miramon hatte ſich ge
faßt und ſagte mit erhobener Stimme:
Majeſtͤt! Zwar bin ich ſelbſt ein Me—
xikaner; aber Mexiko iſt kein Land, wie
ein anderes. Medriko iſt eine Art großes
Zuchthaus. Wollen Sie darin nach eu
ropiſcher Weiſe regieren, ſo bedeutet dies
in der That nichts Anders, als ſich ſelbſt
und das Land jenen Mörderbanden über—
liefern. die ſich Liberale und Freunde der
Freiheit nennen!“
Der Kaiſer ſtand ernſt und tief in Ge
danken ſeinem Generale gegenüber; end—
lich ſagte er in einem ruhigen aber ent—
ſchiedenen Tone, der keine fernere Wider—
rede erlaubte: „Kommen Sie, General,
ich will den Verurtheilten in ſeinem Ker—
ker ſehen und ſprechen.“
Einige Minuten ſpäter ſtieg der Kaiſer,
welcher das Todesurtheil in die Taſche ge—
ſteckt hatte, von General Miramon und
deſſen Adjutanten begleitet, die breite
Kloſtertreppe hinab und gelangte in's
Freie. In den größern Gaſſen
brannten Lagerfener und herum ſtanden
oder lagen kaiſerliche Soldaten, plaudernd
oder ein frugales Nachtmal bereitend.
Grell beleuchtet von dem rothen lodernden
Wachtfeuer, boten die ſchwarzbärtigen,
braunen, bleichen und ſchwarzen Männer
in den bunten Farbenſpiel ihrer Uniform,
dem Roth der Infanteriſten, den dunkeln
Tinten der Jäger und dem grellen Wech~
ſel von Roth, Weiß und Schwarz der
Rittergruppen, ein prächtiges Bild.
Welche Vergangenheit ſprach nicht aus
den müden Zügen dieſer Braven, die
einen ſchwer verdienten Schlaf verträu—
men! Knaben, kaum der Schule entlau—
fen, lagen umguͤrtet mit dem gefährlichen
Spielzeug menſchlichen Ehrgeizes an der
Seite von Männern und Greiſen, die da
heim Weib und Kind zurückgelaſſen, ne—
den Menſchen, welche die Welt durchwan—
dert hatten, ohne einen häuslichen Herd
gefunden zu haben. Einige erkannten
den Kaiſer und ſprangen auf, um zu ſalu—
tiren. Der Adjutant ging, einem Wink
Miramon's folgend, eiligen Schrittes
borwärts, um die Wachen zu abiſiren
und zugleich den Befehl zu geben, daß alle
militaͤriſchen Ehrenbezeugungen unterblei—
ben ſollten.
Vor dem Kloſter St. Clara, einem
düſteren Gebäude, deſſen unterſte Zellen
als Gefängniß benutßzt wurden, gingen
zwei Wachen mit regelmäßigem Schritte
auf und ab. Sie blieben ſtehen als ſie
die zwei in Mäntel eingehüllten Ofſiziere
kommen ſahen, und praäſentirten das Ge
wehr, ohne die Wache herauszurufen, der
Adjutant ſtand ſchon mit dem Prior,
welchen er ſchnell aviſirt hatte, vor der
Pforte, den Kaiſer erwartend.
„Führen ſie uns in die Zelle des zum
Tode verurtheilten Rittmeiſters Pedro
Pena,“ war des Kaiſers kurzer trockener
Befehl. Der Prior verneigte ſich tief und
ging mit einer Laterne ſir n dem
Kaiſer und dem General Miramon voran
durch die důſteren Kloſtergänge.
* *
*
Pedro Penna ſaß in der Zelle Nro. 3.
Das Innere derſelben war ſchauerlich öͤde.
Nur durch ein kleines dreifach errqerte:
Fenſter drang ein ſpärlicher Lichtſchimmer
ünd die Mauern waren ſo feucht, daß ſie
tropften. Ein Bett, ein Stuhl und ein
Tiſch, ſo ſchmutzig als möoͤglich, ſtanden in
den bier Winkeln der Zelle vertheilt. Der
Boden beſtand aus geſtampfter Erde und
hatte zahlloſe Unebenheiten und Löcher.
Eine kleine eiſenbeſchlagene Thůre mit
einem ſchweren Schloß ſperrten dieſen
důſtern Ort von der Außenwelt ab. Die
Stille der Nacht wurde nur durch den
einfoörmigen Schritt der vor der Zelle auf
und abgehenden Wache unterbrochen.
Auf dem einzigen Stuhle ſaß Senor
Pedro Penna, bisher Offizier in dem
„Regimente der Kaiſerin.“ Den Tag
zuvor wurde er durch Zufall ertappt, als
er auf dem äußerſten Poſten der belager
ten Stadt mit dem Feinde correſpondirte.
I. Stern, Herausgeber.
Launfende Nummer 60.
Er war höchſtens dreißig Jahre alt, einer
der ſchönſten Offiziere des Regiments und
erſt ſeit einem Jahre verheirathet. Doch
e in Tag hatte den jungen Mann furcht
bar verändert. Die Augen lagen düſter
brütend in den eingefallenen Hoͤhlen und
von ſeinen feſtgeſchloſſenen Lippen wich
keinen Augenblick der ſtarre Zug einer
Entſchloſſenheit, die durch nichts mehr zu
erſchüttern ſchien. In der Zelle waren
noch zwei Frauen; beide knieten vor ihm,
jede hatte ſeine Hände ergriffen und ſie
mit Küſſen bedeckt, mit Thränen benetzt.
Dieſe Frauen waren ſeine alte Mutter
und ſeine blutjunge Gattin.
Vom Dome ſchlug die Stunde der Mit
ternacht, in einer Stunde ſollte der Einen
der einzige geliebte Sohn, der Andern der
Gatte für immer entriſſen werden.
Pedro Penna ſaß wie eine Statue
das Auge unbeweglich vor ſich hinſtar
rend, die Hände willenlos ſchlaff herab—
hängend. Die alte Frau ſtand auf und legte
ſein Haupt an ihreßruſt. Arme Mutter!
Wie viele Sorgen, wie viel Kummer, wie
viele Thränen hat ihr das Kind gekoſtet,
bis ſie es groß gezogen und jetzt in
vier Stunden wird man es tödten. Von
dieſem furchtbaren Gedanken ergriffen,
ſank ſie wieder in die Kniee, in jenes
krampfhafte Schluchzen ausbrechend, wel
ches das Herz zu zerreißen droht.
„Entſeßlich. unmöglich!“ fuhr ſeine
Gattin jetzt empor, „gibt es denn keine
Rettung fuůr Dich, mein theuerſter Pedro,
ſo ſprich doch, ich bin zu jedem Opfer fä—
hig für Dich. O dürfte ich für Dich
ſterben das elende Leben, wie ertrage
ich es!“
Die Gattin Pedro's war kaum ſechs—
zehn Jahre alt; ihre ſchönen Augen wa—
ren von unzählichen Thränen geröthet,
ihre Lippen bläulich, ihre prachtvollen
ſchwarzen Haare hingen wirr und aufge
löst um die Schultern. Bald ſtürzte ſie
zu den Füßen ihres Gatten, dann wieder
warf ſie ſich mit ausgebreiteten Armen
an ſeine Bruſt oder lief händeringend wie
eine Wahnſinnige in den engen Raume
auf und ab.
Endlich ermannte ſich Pedro Penna
und ſtand auf.
„Theure Mutter, geliebtes Weib, macht
mir die letzten Stunden nicht noch
ſchwerer und drückender; theuerſte Weſen,
habt nur eine Gnade, vbefolgt meine letzte
Bitte, geht und betet für mich aber
verlaßt mich.
„Dich verlaſſen? Nie, nie!“ riefen
beide Frauen mit markerſchütternder
Stimme.
„Theuerſte Mutter! und Dn mein ge—
liebtes Weib, Ihr werdet mich doch nicht
hinausbegleiten wollen und dieſe für
Euch ſo fuͤrchterliche Scene' Der junge
Mann konnte nicht weiter reden, er fiel
ſeiner Mutter um den Hals: „Geliebtes
Mütterchen, ich danke Dir tauſendmal
für alles, was Du für mich gelitten.“
„Aber,“ rief wie wahnſinnig ſeine Gat
tin dazwiſchen, „iſt denn keine Hilfe,
„wie wenn ich dem Kaiſer zu Füßen ſtürze?
„Dem Kaiſer?“ ſagte bitterlächelnd
Pedro Penna, „jetzt um ein Uhr Mor-~
gens? Der ſchläft, er, der Fremdling
glaubſt Du, armes Weſen, er werde einen
Spion begnadigen?“ und er lachte wild
auf. Doch auf einmal verſtummen Alle,
die greiſe Mutter ſinkt nieder, den feſte
Schritte ertönen auf dem Steinpflaſter
des Corridors.
„Sie kommen, Dich zu holen!“ rief mit
kreiſchender Stimme ſeine Gattin und
ſtürzte ſich auf ihn, mit ihren zarten Ar—-
men ihn feſt umklammernd.
Man hoͤrte die Wache das Gewehr
präſentiren, die Riegel wurden zurückge
ſchoben, die Thůre ging kuarrend auf.
Der Prior trat ein und hob ſeine Laterne
deren blaſſer Schein die auf der Erde lie—
gende Mutter Pedro's und dieſen ſelbſt,
bon ſeinem Weibe feſt umklammert, be—
leuchtete. Zwei Offiziere, in ihre Mäntel
gehüllt, folgten ihm auf dem Fuße.
Der einer fragte den Gefangenen mit
feſter ruhiger Stimme: „Senor Lere
Penna, welchen Grund hatten Sie, Ihren
ohnehin bedrängten Kaiſer verrathen zu
wollen?“
„Senor, ich weiß nicht, mit wem ich die
Ehre habe zu ſprechen; ich weiß nicht, ob
Sir mein didte oder mein Henker ſind.
Weßhalb ich den Kaiſer verrathen wollte?
weil ich ihn haſſe!“
„Und weßhalb dienen Sie ihm ? Weß—-
halb eſſen Sie das Brod Ihres Feindes ?
Warum kämpfen Sie nicht in den Reihen
Ihrer Freunde und warum tragen Sie
den kaiſerlichen Rock, geſchmückt mit dem
Ordenszeichen Ihrer Feinde?“ fragte der
Unbekannte mit einer Stimme, die vor
Aufregung zitterte.
„Senor, ehe noch ein fremder Soldat
den Boden Mexiko's betreten hatte, war
ich Lientenant im Heere der Republik;
doch als die fremden Heere unſere Stadte
üůberſchwemmten, mit dem Kriege Noth
und Elend in unſere Hůtten einbrachen
als aur der Kaiſerliche Soldat ſich Brod
verdienen konnte, während der Republika—
ner nicht genug hatte, um Weib u. Kind
zu ernäͤhren, und ihre hohle blaſſen Wan
gen ibm ein ſtummer und doch ſo be
redter Vorwurf ihn an ſeine Gatten-
Vater oder Kindespflichten erinnerten, da
rief es in meinem Herzen: daß ich für
(Fortſetung auf der vierten Seite)