Newspaper Page Text
Savannah Abend Zeitung.
Prof. C. I. Banſemer, Redakteur.
1. Jahrgang.
Kette und Einſchlag.
Eine Erzählung aus der geit der Baumwollennoth
in Mantcheſter
von
J. F. Smith.
(Fortſehung.)
„Wir hoffen ſo,“ entgegnete die Lady,
nren ſie liebenswürdige Miene zu
machen ſuchte.
Mr: lleh warf einen Blick unwilli
ger Verachtung auf ſeinen älteſten Sohn.
Er hatte ihm nie eiu tiefes Gefühl zuge—
traut, aber eine ſo offene Gemeinheit ůber
raſchte ſogar ihn, der doch die menſchliche
Natur nach einem ſehr niedrigen Maßſtab
abſchäͤtzte. Als er, ohne ein Wort zu
verliren, aus dem Zimmer ging, flüſterte
Michael Haman ſeinem Mit · Curator
kichernd zu:
„Endlich iſt John Bentley ein Bettler.
Ich hab' es ihm vor Jahren prophezeit.“
In demſelben Angenblick bekundete ein
Geſchrei und Grunzen von Seiten der
Arbeiter, welche die Leſtamento Exekuto—
ren zur Beſi fun mirgebracht hatten
daß deiſe in der Flür angelangt
war. a
„Friedrich te die Mutter in
darſih nicht dul
den, dad Vei Migln ichet Vater unter
dem Dach, daͤd vyr ſein war
beſchimpft wit
„Gewiß nicht,“ verſetzte der junge Mann
und verließ haſtig das zimmer.
Er kam zu ſpät, um eine Wiederholung
dieſer negativen Ovation zu hindern, und
John Bentley war bereits nach der Straße
hinaus enteilt. Als Friedrich wieder in
das Beſuehzimmer zurůckkam, drückte ihm
Michael Haman herzlich die Hand und
ſah ihm lang angelegentlich in's Geſicht.
„Sie haben alſo die Tochter des blin—
den Willie geheirathet?“ ſagte er
„3a.
„Zreut mich;“ verſetzte Michael. „Gott
ſei Dank, Sie haben keine Aehnlichteit
mit en Vater.“
Friedrich glich ſeiner Mutter, folglich
auch dem Kinde des Sprechers, der längſt
heimgegangenen Alice.
„Ihren Bruder werden ſeine Pudelhaare
und ſeine blauen Augen zum reichen
Mann machen,“ flůſterte Lady Auguſta
ſarkaſtiſch ihrem Gatten zn.
Sechsundvierzigſtes Kapitel.
John Bentley's Laufbahn gibt uns ein
Beiſpiel, wie tief der Menſch allmälig
ſinken känn. Der Abſtand zwiſchen dem
erſten Schritt und der verſchlingenden
Kluft iſt viel kleiner, als man gewoöhnlich
glaubt; denn ſchnell wird der Boden ſo
ſchlůpfrig, daß es ſchwer hält umzukehren.
Er hatte mit vermeintlich feſten Grund—
ſätzen angefangen, mit dent Entſchluß,
reich zu werden durch ehrliche Mittel, das
heißt durch geſetzliche ehrliche Mittel; aber
ebeu dieſer Zuſatz gereichte ihm zum Ver—
derben. Nicht daß er ſich ſchon für rui—
nirt gehalten hätte. Es ſtand ihm noch eine
anſehnliche Geldſumme zur Verfügung,
und er konnre damtt einen Prozeß anfan—
gen. Das Teſtament ließ ſich anfechten
und ſo ſich ein Vergleich erzielen. Hätte
er übrigens den Haß in Rechnung ge—
nonimen, mit dem der reiche Haman ihn
ſo hartuäckig verfolgte, ſo würde er wohl
die Hoffnungsloſigkeit dieſer beiden Aus—
ſichten erkannt haben.
Nachdem er ſein Haus verlaſſen, begab
er ſich zunächſt nach der Bank, um die be—
deutende Summe, welche er zum Behnf
der Gutserwerbung und einer Spekula—
tion auf dem Wollmarkt daſelbſt nieder—
gelegt hatte, einzuziehen; aber Haman
war ihm bereits zuvorgekommen, indem
er die Auszahlung mit gerichtlichem Ar—
reſt belegen ließ. Mit den Zähnen knir—
ſchend, aber noch nicht entimnuthigt, kehrte
John Bentley der Bank den Rücken. Er
hatte noch zweitanſend Pfund in jeinem
hane non n eine anſehnliche Summe bei
einem Agenten in London, welchen er mit
Answirkuͤng eines Regimentstauſches für
Gilbert beauftragt, und das Patent für die
Krempelmaſchine, das er zn Geld machen
konnte; ;
Nach kurzer Ueberlegung kam er zu dem
Entſchluß, nach der Hauptſtadi zurückzu—
tehren, wo ſeine Bewegungen am weuig~
ſten übetwacht werden konnten. Noch
am nämlichen Natchmittag brachte er die
ſen Plan zur Ausführung, und vor Ab—
lauf einer Woche»hatte er azs den ihm zu—~
änglichen Quellen fünfzehntauſend
Pngua zuſammengebrancht. „Ich bin
noch nicht geſchlagen,“ murmelte er, als
er ſeinen Schatz zählte. „Könnte ich nur
einen kühnen - Helfer finden!“ Er
brauchte nicht lange zu warten. Kaum
hat ein böſer Gedanke Wurzel gefaßt, ſo
wirft uns der Verſucher auch ein Werk
zeug zur Ausführung in den Weg.
dehren wir jetzt zu dem blinden John
zurück. Eingedenk der Schildernng, die
ihm Mrs. Haman von dem Herrn auf
der Treppe gegeben, und der ſeltſamen
Aufführung ſeines Hausgenoſſen, beſchloß
er, der peheimniſpollen genoſen welche
zwiſchen dieſen beiden Perſonen beſtand,
auf den Gruünd zu kommen; doch mußte
er dabei ſehr vorſichtig zu Werke gehen.
Seine Kammer befand ſich unmittelbar
über der Wohnſtube des Weißbarts.
Wenn nun dieſer ausgegangen war, ſo
lüpfte er eine Diele ſeines Fusbodens und
bohrte neben dem mittleren Querbalken
ein Loch in die Decke. Dies mußte nm
ſeiner Blindheit willen mit beſonderer
Vorſicht geſchehen, und er wünſchte
daß ſein alter Freund Sam zur Stelle
wäre, um ihm zu helfen.
Obgleich Willie und ſeine Frau ſeiner
Einladung ſo weit Folge leiſteten, daß ſie
ihn nicht beſuchten, ſchickten ſie doch Mar
tin täglich zu ihm, um nach ihm zu ſehen
und ihm etwas zu bringen. Die Kunde
daß Mr. Haman's Teſtament entdeckt ſei,
erfůllte ihn mit unbegren, ter Freude.
„So iſt wohl John Bentley wieder ein
armer Mann,“ rief er. „Geſchieht ihm
recht. Ich habe immer geſagt, er werde
noch ſeinen Lohn finden. Ohne ihn wäre
Dein Vater jett ein reicher Mann, Junge
ſaber er traute ihm, obſchon ich ihn immer
ſwarnte. Einfältig genug von ihm.“
„Ihr vergeßt,“ ſagte Martin, „daß da—
mals Alles gut vom ihm ſprach. Und
was brachte Cuch ans Euren Argwohn?“
„Seine Stimme, Martin. e
Stin me,“ verſetzte der Spielmann. „Er
ſeren uie in einem natůrlichen Ton wiel
Du und ich. Trau' keinem Menſchen mit
einer falſchen Stimme; er wird Dich ſich·
erlich anführen.“
„Glaubt Ihr wohl, daß John Bentley
auch bei dem Erblinden meines Vaters
die Hand im Spiel hatte?“ fragte Mar
tin.
„Hum,“entgegnete der alte Mann nach
ſeinigem Beſinnen, „ich glaube nicht, und
Dein Vater glaubt's auch nicht. Ich
kann den Menſchen nicht leiden, aber ver—
leumden möcht ich ihn doch nicht.“
„Wer ſonſt koͤnnte einen Beweggrund
zu dieſer granſamen Haudlung gehabt
ben?“
„Das iſt ſchwer zu ſagen. Hat Willie
nie mit Dir darůber geſprochen?“
ein
„Er ſollt's am beſten wiſſen. Es ſteht
n nicht zu, meine Gedanken kund zu
thun, ſo lang er ſchweigt, aber ich
weiß —“
n „Was wißt Ihr?“ fragte Martin ha—
ſtig
„Nichts, Junge. Achte nicht auf die
Reden eines alten Mannes. Wie alt
biſt Dnu?“
„Bald ſiebenzehn.“
„Und Du biſt wohl ein guter und ge—
ſcheidter Burſche?“
„Es dürfte beſſer ſein,“ verſetzte Mar—-
tiu beſcheiden.
„Geht uns Allen ſo,“ bemerkte der
Muſikant philoſophiſch. „Ich kenne nur
einen Menſchen, der in dieſer Beziehung
nichts zu wünſchen übrig läßt den ar—
men Willie. Ja, Du darfſt wohl ſtolz
ſein auf Deinen Vater;: Wenn er nicht
von Natur ſo gut wie Geld wäre, ſo hätte
ihm ſein Unglůck das Gemüth längſt ver
bittern uiſſcni
Der Sprecher ſchwieg einige Minuten,
als gehe er mit ſich lt zuü Rath ob er
Martin in ſein Vertrauen ziehen ſolle
oder nicht. Er brauchte für ſeine Nach—
forſchungen einen Beiſtand, trug aber Be
denken, den jungen Menſchen, dem Willie
nie etwas von ſeinem Argwohn vertraut
hatte, in ſein Geheimniß einzuweilen.
„Dun hiſt ſo ſtill wie ein Vogel in der
Mauſer,“ ſagte er, plötzlich aus ſeinem
Brüthen aufwachend „An was denkſt
Du, Martin?“
„Darf ich es ſagen?“
„Nur heraus damit.“
„Ich hab' mich gewundert, warum ich
bei Euch eine Diele im Kammerboden auf
gehoben finde. Ihr werdet wohl kein
Geld darunter verſtecken wollen?“ fügte
Martin lachend bei.
„Es iſt der Wille Gottes,“ murmelte
John. „Er fängt ſelbſt davon an.“
„Ich verſtehe Euch nicht.“
„Riegle die Thüre zu.“
Martin gehorchte.
„Und nun lüpfe das Brett ſorgfältig.
Mach keinen Lärm. Du wirſt neben dem
Hauptdeckbalken ein Loch finden. Leg'
Dein Auge daran und ſag mir, was Du
ſiehſt. Ich kann nur mein Ohr dazn
brauchen.“
Martin folgte der Aufforderung, und
John legte ſich geſtreckt auf den Kammer—
boden nieder.
„Ich ſehe —“
„Leiſe Junge nur ganz leiſe.“
„Einen alten Mann mit langem, wei—
ßem Bart; aber der Ansdruck ſeines Ge—
ſichtes gefallt mir nicht. Er hat ſo wilde
Angen.“
„Ja, ja, ohne Zweifel wild genug,“ flů
ſterte Idhn. „Iſt er allein?“
„Nein; ich ſehe noch ein altes Weib bei
ihm. Seltſam. Sie hat den nämlichen
wilden Blick.“
„Kannſt Du hören was ſie ſagen?“
Sie Sprechen von Uhr.“ urgnete
Martin, das Ohr an das Bohrloch le—
grnd. . ;
„Gib wohl Acht, was ſie ſagen,“ flů~
ſterte der Spielmann in großer Aufre
ſuns „Gott lob, ich wußte wohl, es
werde endlich heranskommen. Um Alles
verlier mir kein Wort. Du kannſt mir's
dann erzählen, wenn ſie fort ſiud.“
Faſt eine halbe Stunde blieben die
Beiden in der gleichen Lage. Endlich er
hob ſich Martin leiſe und rückte die Diele
wieder über die Oeffnung. ;
„Nun, erzähle mir,“ begann der blinde
Savannah, Ga., deù 27. März 1872.
John haſtig. „Was haben ſie geſpro
chen?“
„Von einem Verwandten, glaub ich,
der heute Abend kommen wird, um eine
Uhr zu kaufen.“
„Keinen Namen gehört?“
„Ich habe ihn nicht verſtanden. Dann
ſprachen ſie von einer Nummer und da—
von, daß der alte Mann von Mancheſter
fort ſoll. Ich kann mir nicht denken, was
dies mit der Uhr zu ſchaffen haben mag.“
Sein Zuhörer nickte wohlweiſe mit dem
Kopf, um anzudenten, daß ihm die Sache
ganz klar ſei.
„Sie miſchten in ihr Geſpräch Worte
t die ich nicht verſtand,“ fügte Martin
ei.
„Rumäniſch, Junge, rumäniſch. Hör
jeßzt, was Du thun mußt.“
3a?“
„Komm auf den Abend wieder her und
paß auf.“
„Das Lauſchen gefällt mir nicht, und
ich glanbe, auch mein Vater würde es
nicht billigen. Seid nicht böſe, John,
ich bin Euch zu Allem erbötig, nur zu kei~
nem ſolchen Dienſt.“
„Ganz wie die Andern,“ brummte der
Geiger. „Willſt Dn auch klüger und
beſſer ſein, als ältere Leute?“
„Ich komme eben nicht,“ antwortete
Martin entſchloſſen.
„So bleib weg und laß den Menſchen
der Deinem armen Vater den Segen des
Geſichts raubte, ungeſtraft entkommen;
denn ich allein kann ihn nicht ausfindig
machen.“
Martin begann am ganzen Leibe zu
zittern; denn es war der ſchoöͤnſte Traum
ſeines Lebens geweſen, den niederträchti-
Feind ſeines Vaters in die Hände der
Herechtigkeit zu liefern. „Verzeiht mir,
Zohn,“ rief er, „und ſtraft es nicht ſo
ſchwer, daß ich an Euch zweifelhaft
wurde.“
„Vielleicht kann ich's auch ohne Dich
durchführen.“
Martin erbat ſich s mit ſolcher Wärme,
nicht als eine Gunſt, ſondern als ein
Recht, gegenwärtig und an dem Werk der
Vergeltung mitthätig ſein zu dürfen, daß
der lnwille des alten Mannes ſich endlich
legte.
„Erinnerſt Du Dich, um welche Zeit
der Menſch die Uhr holen will?“
„llm Zehn.“
„So ſei um neun Uhr hier und laß es
uicht fehlen.“
“Hätte der Sprecher den Blick ſehen
können, mit dem Martin dieſe Einſchär
fung aufnahm, ſo würde er ſich in Betreff
einer Verſäumniß vollkommen beruhigt
gefühlt haben.
Kaum war der alte Mann allein; als
er ſeine Geige aufnahm, und in einem
wunderlichen Gemiſch von Tönen der Ver
wirrung ſeiner Gedanken Ausdruck zu ge—
ben begann. Im Launf wurden die No—
ten beſtimmter und klarer, gingen in eine
ſanfte, klagende Melodie über, und ſchloſ
ſen endlich mit einem triumphirenden Ca
priceio.
„Ich danke Dir,“ ſagte der Spielmann,
mit der Hand liebkoſend über den Hals
ſeines Inſtruments hinabfahrend. „Wußte
wohl, daß Dun würdeſt. Biſt
mir ja immer treulich beigeſtanden, altes
Mädel.“
Nachdem er die Geige wieder in ihrem
Futteral verſorgt hatte langte er nach ſti
nem Hut, ſchloß ſeine Kammerthüre zu,
und ſtieg ſo ſicheren Trittes, als ob er
Augen hätte, die Treppe hinunter. Es
war für ihn eine ungewoͤhnliche Ausgeh
ſtunde. An der Hausthüre angelangt,
unde er nicht ohne Abſicht Halt, um an
n ſeiner Schuhe den Riemen feſter an
zuziehen.
„Guten Tag, John, guten Tag!“ ließ
ſich eine Stimme aus dem Souterrain
heraus vernehmen.
„Danke Brigitt,“ verſetzte der alte
Mann.
„Harte Zeiten, John, harte Zeiten.
Heute iſt Dienſtag.“
Dienſtag war der Wochentag, an wel
chem die Sprecherin, die unter der Bedin
gung, daß ſie die Hausmiethe einſammelte,
ta Ouartier hatte, von den übrigen
Hausbewohnern Zahlung erwartete.
„Ihr ſeid ein zudringliches Weibsbild,“
bemerkte der Blinde ärgerlich.
„Ihr habt ſonſt nie ſo lang warten laſ
ſen,“ lautete die Erwiderung.
„Schätz wohl, ich bin nicht der einzige
Spätling.“
„Leider nein,“ verſette die Stimme aus
dem Souterrain.
„Dann braucht ihr nicht ſo in die Straße
hinaus zu ſchreien,“ ſagte der Miethömann
im Ton gekränkter Würde. „Ich will
hinunter und in Gutem mit Euch über
einkommen.“
Die Frauensperſon ſchien ſich bei die—
ſem Erbieten zu beruhigen und ſtellte ihm,
als er bei ihr eintrat, einen Sitz hin.
„Wie geſagt, Brigitt,“ fuhr der Spiel
mann fort, „es ſind harte Zeiten, nament
lich für ſolche, die keine Arbeit haben oder
nie nach Arbeit ausgehen.“
„Ah, ich merke, wen Ihr meint.“
Wen?“
„Den Weißbart.“
„Falſch gerathen,“ verſetzte der blinde
Zohn „Um den zerbreche ich mir den
Kopf nicht.“
„Hat auch nicht nöthig zu arbeiten “
ſagte die Frau.
„Ein Glück für ihn.“
„Er hat gute Freunde.“
„Was Ihr ſagt!“
„Der reiche Norle iſt zweimal bei ihm
geweſen.“
„Und wer iſt diejer Norle?“
„Der lude mit dem großen Laden in
der Straße drunten. Er bringt ihm Geld,
und wenn er's nicht ſelbſt thut, ſo ſchicki
er ein Weibsbild damit. Sehr gut von
ihm.“
„Sehr,“ wiederholte ihr Zuhoͤrer trok.
ken. „Und wie ſieht dieſer Norle aus?“
Die Frau beſchrieb ihn, ſo gut ſie konnte.
„Was ftag ich auch? Er geht mich
nichts an.“ ſagte der Geiger „Aber
jetzt muß ich fort und einen guten eect
aufſuchen. Macht Euch keine Sorge we—
gen der Hausmiethe; ich habe Euch im
mer ehrlich bezahlt.“
„Das muß ich Euch nachſagen.“
„Ihr kriegt heute noch das Blech, wenn
ich Glück habe,“ fügte der Spielmann bei,
als er ſich herabſchiedete.
Denſelben Abend hielt John eine lange
Unterredung mit Willie, dem er unyerho
len ſeinen Argwohn über Norle mittheilte.
Unſere Leſer haben in Letzterem bereits den
jüngſten der Gebrüder Lee erkannt.
„Wenn ich auch recht habe,“ ſagte
Willie, „ſo kann ich doch nichts beitragen
zu Ueberführung der Perſon.“
„Vielleicht kann ich's.“
„Ihr?“ rief Willie.
„Ja, wenn ich ihn ſprechen höre. Dieſe
Lee's ſind ein ſchlimmes Pack, und es kann
mit keinem ein gutes Ende nehmen. Ich
will dem Burſchen ſcharf aufpaſſen.
Hente Abend kommt er, um eine Uhr zu
kaufen.“ Willie zitterte vor Aufregung.
„Aber es werden zwei, vielleicht drei bei
dem Handel ſein. Ueberlaß nur Alles der
Vorſehung. Gott nimmt sich der Blinden
an.“
Als John bald darauf ſich entfernte,
verbat er ſich entſchieden alle Begleitung.
Er wollte die übernommene Aufgabe in
ſeiner Art vollbringen. Gleich dem
Maulwurf zog er es vor, allein zu arbei
ten.
(Fortſetung folgt.)
Der Roſenmontag in Köln.
Um unſeren Leſern einmal eine Idee
davon zu geben, mit welch' coloſſalem
Aufwande und verſchwenderiſcher Pracht
in Koöln, am Carnevals Montage, auch
„Roſenmontag“ genannt, der jährliche
große Maskenuümzug in Scene geſetzt wird,
laſſen wir nachſtehende ansfůhrliche Be—
ſchreibung folgen, welche wir der „Kölner
Zeitung“ „vom 13. Febr. entnommen ha—
ben. Das eben genannte Blatt ſchreibt:
Vorgeſtern Abend erregte ein dunkel
verhängtes Firmament in allen earneva
liſtiſchen Gemüthern ſehr ernſte Beſorgniß.
Kein Stern am Himmel leuchtete. Auch
geſtern früh war der lettere noch trüb um—
flort, doch ließ ſich noch das Beſte hoffen.
Wir wurden nicht getäuſcht: es kam ein
friſcher Morgen, und gegen Mittag ſchon
blinzelte die goldlockige Sonne mit bezan·
bernderFreundlichkeit zwiſchen den getheil
ten Wolken hindurch. Sie ſchaute im hei—
ligen Köln ein bunt bewegtes Leben: die
Straßen gefüllt mit hin und her wogen—
den Schauluſtigen und zwiſchen dieſen
Masken in unendlicher Verſchiedenheit,
burleske, grotesle und pittoreske. Wie
vor zwei Jahren das Schlagwort:
„No wat ſähſte doh derzo“
im Schwunge war, ſo hörte und las man
geſtern die Exelamation: „Wat ſühſte
ſchläch uhs!“ In Wirklichkeit ſah
aber Niemand ſchlecht aus. Nur ver—
gnügte, luſtige und ſtellenweiſe ausgelaſ—
ſene Meuſchenkinder waren zu ſehen.
Als der Mittag näher rüůckte, bewegte
und ſchob ſich die Menge nach dem Neu—
markte hin, wo ſich der große Maskenzng
zu ordnen hatte. Der innere Raum füllte
ſich nach und nach init maskirten und un—
maskirten Zuſchauern, Muſikeorps, Wa—
gen und Reitern, die beiden Funken-Re—
gimenter rückten ein, Muſik und Geſang
ertöͤnte. Der letztere wurde von einer
Bande maskirter Knaben vielverſprechende
„kölſche junge Hähre,“ ausge—
führt, die, um einem tief empfundenen
Bedürfniſſe abzuhelfen, am Roſenmon—
tage einen neͤen Männergeſangverein
geſtiftet hatten und zur allgemeinen Hei
terkeit mit einem vortrefflich eingeübten
muſikaliſchen Quodlibet debutirten. Zwi—
ſchenzeitlich gewährten die allmählig an—
kommenden Wagen noch Unterhaltung
nach allen Seiten. Die üblichen fliegen~
den Blätter, welche jeder Wagen mit Be
zug auf ſeine Bedeutung zum Beſten gab,
wurden begierig eingehaſcht und geſam—
melt. Außerhalb des geſchloſſenen Rau—
mes harrte Kopf an Kopf die Menge.
Bald nach zwei Uhr konnte ſich der Zug
in Bewegung ſetzen. Er wurde eröffnet
durch eine Gruppe Vorreiter. denen ein
Muſikeorps zu Pferde-in der Maske,
Pierrots folgte und ſich mit hellem Klange
den Fernſteheuden ankündigte. Die mu—
ſicirenden Pierrots bildeten die Capelle
der in Blau und Weiß uniformirten
Funken Artillerie, die, hoch zu Roß, mit
beſpannten Geſchützen, die ſieggekrönte
Germania in Koͤln einführten. Der von
vier Pferden gezogene Wagen der Germa—
nia gehörte zu den ſchönſten des Zuges.
Er ruhte auf einem Felſen, aus welchem
die bekannte Krupp'ſche Rieſenkanone her—~
vorragte. Ueber der die koölniſchen Farben
tragenden Germania wölbte ſich blau und
weiß ein Baldachin und über dieſem
prangte in lauterem Golde eine koloſſale
Kaiſerkrone. Dem höhren Frauenbilde
folgte zunächſt eine berittene Ehrengarde
ſin Blau, dann ein rieſiger Ofen, um an—
zudeuten, daß der Zug geheizt war. Nach
ren ſchätzbaren Möbel kamen die be
ſkannten Plaeaten -Säulen, denen ebenbür—
ſtig ſich ein Wagen der erſten rnen
Köln's anſchloß: zwei mächtige, über ein
ander ausgeſpannten Regenſchirme und
oben darauf anſtatt des heiligen Petrus
ein niedliches Hanswürſtchen mit du
inmelschiullel Hinter dem Spring
ſbrunnen tanzten die obligaten Heiligen
mädchen und Knechte ihren Reigen.
Es folgten die Vorläufer der kölner-
Funten Infantrie in Roth und 4
Als nothwendiges Zubehör kam der Wa
gen der Marketenderin, gezogen von einem
ſruſſiſchen Dreigeſpann, beſtehend in dreil
Eſeln, ſaämmtlich im Inlande geboren und
geſtellt, wie behanptet wurde, vom Rhet
niſch· Weſtfäliſchen Rennverein.
Der nächſte Wagen brachte das große,
mit 4 Pferden beſpannte ſcharlachrothe
Funkenzelt, ein anderer das beſcheidene
Arreſtlokal der Funken, die eine Arreti
rung nach der andern vornahmen und
runa nnc ihre Arreſtanten ſofort wieder
lentſpringen ließen. Das dem Militär
Arreſthanſe folgende Muſikeorps erſchien
Coſtüm der Köche: bleudend weiße
Mützen und Jacken und ans jeder Mütze
leͤn Teller befeſtigt mit den ausgezeichnet
hübſch nachgebildeten Erzengniſſen der sei
nern Kochkunſt. Dem Dufte dieſer lek—
keren Speiſen folgte eine Reitergruppe,
dann ein vierſpänniger Wagen, das ober—
halb Kölns entſtehende Bier-Aetienunter
nehmen als hanswurſtliches Erportgeſchäft
darſtellend. Im Anſchluß an dieſe ſpeeu—
lirende Geſellſchaft kam der von vier Pfer
den gezogene Wagen der ſtrikenden
Waſchfrauen. Auf einem Felſen von lich
tem Seifenſchaum ſtand die koloſſale
Bütte und in derſelben genoſſen die ſtri
kenden Damen ihr dolce far niente.
Da ſie ſammt und ſonders feine Glace-
Handſchuhe trugen, ſo werden die Herren
Führer der Arbeiterbewegung ſich eines
bedeutſamen ſozialen Fortſchritts zu er—
frenen haben. Hinter dem Wagen ſchritt
noch eine gute Anzahl von ſtrikendenFrauen
zu Fuß einher. Ihr~ Motto lautete:
Mer halde zoſfamme.
Nach der ſtriken den Geſellſchaft nhien
der von der Carnevals-Geſellſchafſt von
Ehrenfeld geſtellte ſechsſpännige Wagen
mit der allegoriſchen Figur der „Ehren—-
feldia“ in blauſeidenem Mantel mit Gold—
und Silberborden. Nach der hohen Frau
präſentirte ſich ein Damen-Muſikeorps in
ſroth und blan, es war die Capelle der
mobil gemachten deutſchen Marine Sol—
daten, die vollſtändig bewaffnet in langer
Reihe einherſchritten. Ihnen ſolgte ein
Wagen mit ſechs Pferden, überall mit
Erſtaunen und lautem Beifall begrüßt.
Es war die Amme der jungen, rheiniſch—
weſtphäliſchen Bankea, ein weiblicher
10ß, woh! 30 Fuß hoch und in dem vor-~
trefflichſten Ebenmaß ausgeführt, einen
Kinderwagen vor ſich herſchiebend, worin
die jungen Banken ſich behäbig niederge—
ien hatten.
Von den Dimenſionen.·der Enakstochter
taun man ſich eine Vorſtellung machen,
wenn man hört, daß ihr Kopf gegen drei
Centner ſchwer iſt und zu ihrem Kleide
nicht wemger als 173 Ellen bunter Kat
t vernäht worden ſind. Ein
eorps in Zuaven-Uniform bahnte dann
„unſerer Flora“ den Weg. Sie war dar—
lgeſtellt auf einem vierſpaͤnnigen Wagen
einen Blumenkorb von eoloſſalen
Dimenſionen; zwiſchen Blumen und Laub
ſwerk weilten vier wohlgenährte Herren in
Damenkleidung. Nach der Flora folgte
zunächſt die italieniſche Geſandtſchaft, dann
lauf einem wvon vier Pferden gezogenen
Wagen die ſtädtiſche Waſſerleitung, die
in der Figur eines Sohnes von Nigritien
gipfelte, zu deſſen Füßen geſchrieben ſtand:
Der Mohr hat ſeine Schuldigkeit gethan,
der Mohr kann gehen.“ Ein ſich anſchlie—
hßendes Muſikcorps in ſpaniſcher Tracht
feierte in ſeinen Klängen, wie es ſchien,
die bevorſtehende Eröffnung unſerer Waſ
ſerwerke, in Wirklichtkeit aber gehörte es
zu der reich coſtümirten Ehrengarde derx
altkölniſchen Bürgermeiſter Gryn und
Hardenrath, die würdevoll in einem
prachtvollen, mit Blumen geſchmückten
Sechsſpänner ſaßen. Auf der vorderen
Seite deſſelben war ein rieſiger mit Wein
laub umfſlochtener Pokal. Zu den Füßen
der Herrn lener Lotal lag der ſagen—-
·hafte, von Herrn Gryn getödtete Löwe.
Darauf folgte der mit ſechs Pferden
ʒbeſpannte „Müuhler·Wagen“, gekennzeich
tnet durch eine vorn angebrachte Wind
mühle, deren Flügel ſich wie im Sturme
; drehten. An jeder Ecke des Wagens ſaß,
e als Wahrzeichen der Weisheit, eine groß—
— mächtige Eule. In der Mitte deſſelben,
e zwiſchen luſtigen Studioſen, ſtand eine
~gewaltige Bowle. Die Muſenſöhne tru
t ſgen die Farben der Verbindung, welcher
e boreinſt der Dichter des Liedes „Grad
rſaus dem Wirthshaus komm
hich heraus“ angehoört haben ſoll.
e. Lied war in Noten geſetzt, am hin-
I. Stern, Herausgeber.
No. 49.
ſtern Ende des Wagens vollſtändig mitge
ſtheilt. Die Hauptzierde des Mühler—
Wagens beſtand in einem verhüllten gro
ſßen Wandgemälde, welches gleich dem
i zu Sais wohl die Wißbegierde ei
ſnes Jünglings hatte reizen koͤnnen, denn
ſes war, wie wir hören, das reizende Bild
der Göttin der Liebe, wie ſie eben aus dem
Schaum des Meeres emporgeſtiegen.
Welch glücklicher Gedanke, das Bild zu
verhüllen, denn ſonſt hätte die, Teufelinne“
wohl gar irgend einem angehenden Taun
häuſer gefährlich werden koöͤnnen.
Der nächſte Wagen, ebenfalls ſechsſpän
ſnig, brachte das Ulkmanns ·Conzert und
lſeine Künſtlerſchaft, unter welcher wir
Signoria Maria Monbelle merklich ver
ändert fanden. Abermals kam ein ſechs
ſſpänniger Wagen mit T. Lent's ſchwim—
menden Cireus. Den oberen Theil deſ
ſſelben bildete eine Drehſcheibe als Car
rouſſel, auf welcher ein Elephant und an—
dere Vierfüßler der heißen Zone paradir
ten; ganz beſonders aber that dies das
Urbild weiblicher Häßlichkeit, die berühmte
Signora Paſtrana. Unterhalb des Car—
hatten ſich die Kunſtreiter und
ſßeiterinnen des Cireus gelagert. Hinter
/dem Cirens· Wagen kam in reicher Tracht
auf reich geſchirrtem Pferde der lölniſche
Bannerträger, dann im Coſtüme mittel—
alterlicher Wappenherolde, vortrefflich be
ritten, ein Trompetereorps, welches ſeine
Fanfaren weithin erklingen ließ. Es ritt
dem Prachtwagen des kölniſchen Bauers
ſund der koöniglichen Jungfrau voraus.
Dieſer Wagen mit ſechs Pferden be—
ſpannt, war in reicher Vergoldung in Ge
ſtalt eines Schiſfes ausgeführt. Vorn
ein Maſt mit einem Aſchenbrödel
geziert und mit geblähtem Segel auf;
letteres trug den bekannten köoölniſchen
Bauernwahlſpruch: „Halt faß am
Rich, do köͤlſchen Voor, et fall
ifühß off ſoor!“ Die beiden Lang—
ſitn des Wagens wurden von je einem
geflügelten Löwen gebildet, Zwiſchen
denſelben ſtanden, überaus prächtig in den
kölniſchen Farben gekleidet, der Bauer und
die Jungfrau, und hinter ihnen, an einem
mit Blumen geſchmückten Maſte lehnend,
die mächtige und ehrwürdige Geſtalt des
Vaters Rhein in grünem Talar mit ſilber
weißem Barte. Dieſem Prachtwagen
folgte zunächſt die Ehrengarde der Vie—
toria; dann erſchien die Siegesgttin
ſelbſt in einem mit prächtigen Fahnen
verzierten Wagen. Die Inſchriften deſ
ſſelben deuteten auf den ſiegreich ausge—
kämpften Krieg, die Wappen der erſten
deutſchen Staaten Deutſchlands auf die
Waffenbrüderſchaft der deuntſchen Heere.
Zu Häupten der Vietoria ſchwebte der
Lorbeerkranz. Der Vietoria ſchloß ſich
die Ehrengarde des Kaiſers Barbaroſſa
an; es waren Reiter in Schuppenpanzern
mit antiken Helmen. In einem von ſechs
Pferden gezogenen Wagen kam dann
Friedrich der Rothbart, von dem es heißt:
Er ruft: Sieht man noch weiden
Die Wolken um des Berges Haupt?
Steht noch vom Trotz des Heiden
; Die Burg dort ausgeraubt?
; Zieh'n noch die mächt'gen Raben
Da oben aus und ein?
Da ſeufzt er tief: wir haben
; Noch fern erlöſt zu ſein!
Nun aber iſt Barbaroſſa aus dem Dun—
kel des Kyffhäuſer erſtanden und freut
ſich des Reiches. Eine impoſante Helden
geſtalt erſchien zwiſchen Herkules und
Mars in einem Stahlpanzer, über den
ein langer Mantel herabwallte. Die De
coration des Wagens beſtand in preußi
ſchen Adlern, in der deutſchen Eiche, in
deren Aeſten Helm, Schild, Harniſch,
Speer und Schwert aufgehängt waren,
lendlich in geketteten Drachen auf beiden
Seiten und in zwei Inſchriften, Sedan“
und „Merxiko.“
Dem großen Hohenſtaufen folgte in
beſcheidenem Wagen der Vorſtand der
großen Carnevalsgeſellſchaft und hinter
dieſem die Inſignien des Reiches der
Naarheit: eine rieſige Narrenkappe nebſt
Pritſche und Pokal. Dann aber kam die
j Ehrengarde des Prinzen Carneval; Reiter
lin prächtigen Coſtüme, die ſchönen Pferde
mit golddurchwirkten Schabracken bedeckt
hinter ihnen der Held des Tages,
* rinz Carmeval, in ſeinem ſechs
ſpännigen Prachtwagen. Zum Schmucke
deſſelben dienten auf den vier Ecken ange-~
brachte preußiſche Adler, ſodann die alle
goriſchen Figuren und Wappen von El
ſaß und Lothringen und eine dem Wa—
gen umgebende große Schaar von Engeln.
Der Wagen gipfelte in einer mächtigen
Kaiſerkrone, in deren Mitte Prinz Carne—-
val mit zwei kleinen hanswürſtlichen
Sprößlingen tronte, unauſhorlich reiche
Gaben ſeiner Huld nach allen Seiten
ſpendend. Dieſem reichen Wagen, der
eben ſo wie jener des koͤlniſchen Bauers
ſud der koölniſchen Jungfran von allen
Seiten bewundert wurden, folgte der
Schlußwagen: ein koloſſates Modell des
hieſigen Depots, das ſich durch ſeine In
ſchriften als Hotel zu billigen Preiſen mit
reeler Bedienung zu erkennen gab und an
pries und möglicher Weiſe das tragi-ko
miſche Ende andentete, welſches die Fa
gintrinit für einen oder den anderen
·Narren wohl nehmen koönnte.
Es würde uns jetzt noch erübrigen,
das in Sturm und Drang bewegte Leben
des Volkes in den Straßen zu ſchildern:
1 (Fortſetung auf der vierten Seite.)