Newspaper Page Text
Savannah Abend Zeilung.
Frof. C. I. Banſemer, Redakteur.
2. Jahrgang. No. 17.
Kette und Einſchlag.
Eine Erzählung aus der Zeit der Baumwollennoth
in Mancheſter
von
J. HF. Smith.
(Fortſetuna.)
„Kerl?“ fuhr der Sprecher fort. „Mein
Sie zu ſprech mit eine Bedient? Sie mir
nicht anführ, und ich recht wohl merk,
wenn Sie mein zu ſein allein, wie Sie
probir vor Spiegel, zu ſeh' aus wie Maſſa
Welby. Aber e all nichts. Kerl
ſchan hinein, Kerl ſchan heraus ſein
ihrer zwei.“ Der Kellner machte dabei
den Zigeuner i ſeitten mimiictn Studien
vor dem Spiegel ſo poſirlich nach, daß ſich
dieſer noch mehr gedehmüthigt fühlte.
„Aber ich ganz vergeß,“ fügte der Neger
bei, „da ſein Gentleman in das Kaffezim
mer, der wüůnſch zu ſeh Sie.“
„Mich? Sein Name?“ ;
„Kann nicht ſagen Nam, hier iſt ſein
Kart.“
„Der ſchwarze Gentleman kann, ſcheints
nicht leſen,“ bemerkte Lin höniſch.
„Schwarze Gentleman nicht neugierig,“
verſehte der Kellner ausweichend. „Er
ſich nnr kümmer um eigene Sach.“
„Mr. Twiſſelton?“ rief der Zigeuner
höchlich erſtaunt. „Führ ihn ſogleich zu
mir und da, Pompey, Mungo, oder
wie Dein hölliſcher Name lauten mag“
„Sein Name ſein Memnon, Sirre,“
unterbrach ihn der Kellner in komiſcher
Würde. ; ;
„Gut, Memnon, da iſt ein Dollar für
Dich, um Dich zu ermuthigen, in Zukunft
etwas reſpektvoller zu ſein. Verſtanden?“
„Sehre wohl. Weun weiß Gentleman
ſich benehm wie Gentleman, ſo ſchwarz
Gentleman es erwider,“ verſette der Ne
ger, die Münze einſteckend.
„Bring auch Champagner in Eis“
„Sogleich, Sirre.“
„Mein lieber Mr. Twiſſelton,“ xief
Lin, ans ſeiner ſtudirten Haltung aussah
reud, ſobald er des Rechtsgelehrten an
ſichtig wurde, „das iſt iu der That ein
unerivartetes Vergnügen. Wer Henkers
hätte auch gedacht, daͤß ich Sierin New
Orleans wieder ſehen würde! Schade,
daß Bentley ſchon wieder auf dem Wege
nach Liverpool iſt; gemeinſchaftliche Spe
enlation kann nicht unthätig ſein.
Was bringen Sie von Mancheſter! Na
důrlich dem Luchs, dieſem Spitzbuben, das
Handwerk gelegt? Und wie ſteht's mit
dem Blech? Doch Sie nehmen nicht
Platz, und ich ermüde Sie mit meinen
Fragen.“
Der Advokat lächelte über das Ge—
meng von gemeiner Familiarität und
affektirtem gentlemaniſchen Weſen. Wäte
er mit Ernſt Welby bekannt geweſen, ſo
würde er wohl gewußt haben, welches
Original der gigeuner kopirte.
„Ich bedauere Bentlehs Abweſenheit,
da mein Geſchaͤft eigentlich ihu angeht.“
„Und wie ſteht's mit meinen Angele
genheiten?“ ;
„Ihre Häuſer und Magazine in Man
cheſter ſind verkauft; den Erlös habe ich
nach Abzug der Kommiſſionsgebüh: und
der Koſten in Wechſeln auf London ange—
legt. Ich bin vorbereitet, die Rechnung
mit Ihnen abzuſchließen.“
Lin's Angen funkelten vor Begier; er
war viel beſſer aus der Klemme heraus
gekommen, als er erwartet hatte, denn
ivie die meiſten Spithbuben glaubte er
nicht, daß es ehrliche Leute gebe. Die
Rechnungen wurden durchgegangen und
gegen Empfangsbeſcheinigung die Wechſel
n leliee
„Das war trockene Arbeit,“ bemerkte
der Zigeuner. „Was ſagen Sie zu die—
ſem hennet e Kapitaler Stoff.
Nur ein Fehler nicht ſtark genug.“
Er klingelte und herrſchte den eintretenden
Memnoͤn in der Welbymanier zu: „Ci
garren!“
„Nicht für mich,“ bemerkte der Advo—
kat. „Das amerikaniſche Kraut iſt mir
zu ſtark“
„Zu ſtark, weil ſie nicht daran gewöhnt
ſind,“ verſetzte ſein Klient. „Doch halt
ich habe etwas, das Ihnen zuſagen wird,
mild wie Milch, und duftig wie wie“
„Bemühen Sie ſich nicht mit der Ver
gleichung.“
„Ja, ja; es iſt unter Freunden nicht
nöthig, und wir verſtehen üns gleichwohl.
Bentley gab mir, eh er ausfuhr, ſein
Etui wahre Edelſteine; er hat ſie von
einem Freund von uns, einem Pflanzer
am Fluß droben. Die meinigen waren
verbraucht, und ſo beſtand er daranf, daß
ich die ſeinigen annehme.“
„Ich verſtehe. Ein Abſchiedsgeſchenk.“
„Ganz richtig. Memnon, das Etui
iſt in meinem Zimmer, vielleicht in mei—
nem Staatsfrack.“
„Staatsfrack? Das der, den Maſſa
Lin machen ließ, zu ſpeis darin bei Ge
neral Butler?“ verſetzte der Neger mit
einem komiſchen Augenrollen.
„Ich glaube ſo,“ entgegnete der Gentle
man etwas verwirrt. „Wenn nicht da,!
ſo ſuche in meinem Schlafrock dem
ſeidenen.“
„Ja, Maſſa Lin“
„Und bring es her.“
„Den Schlafrock?“
„Dummtopf! Nein das Cigarrenetui.“
Memnon war im Begriff, etwas zu er~
widern, aber ein geſchickt zugeſteckter zwei
ſter Dollar diente als Balſam für die
ſeiner Würde geſchlagene Wunde, und er
verließ ſchweigend das Zimmer.
„Ich muß Ihnen in der That Glück
wünſchen zu Ihrer vortheilhaften Verän
derung in Rede und Benehmen,“ ſagte
der Advokat, den das affektirte Weſen ſei
nes Klienten höchlich beluſtigte.
„Hm, das Reiſen bildet, beſonders
wenn man Blut in ſich hat.“
„Haben ſie auf ſich geſagt?“
„In ſich“ wiederholte der Zigenner
hoch erröthend.
„Sie würden Aufſehen machen in
Mancheſter. Ihre alten Freunde würden
Sie kaum mehr erkennen.“
„Ich koöͤnnte es jetzt dem Beſten gleich·
thun,“ verſetzte der Strolch mit der Ro
eitler Selbſtzufriedeuheit.
„Schade, das Sie nicht zurückkehren
können.“
Der Ausdruck der Selbſtgefälligkeit
verſchwand, und Lin brummte vor ſich hin:
„Verlangt mich auch nicht darnach. Ein
Weltmann iſt überall zu Hanuſe.“ Und
ler leerte, um ſeinen Aerger zu verbergen,
leinen Kelch Champagner mit einem Zug.
„Sie haben's hier allerdings beſſer als
im Zuchthaus,“ ſagte Twiſſelton, mit ei
nem ruhigen Lächeln.
„Zum Henker, können Sie einen nicht
in Frieden laſſen?“ rief der Zigenner,
mit Macht das leere Glas gegen die
ſWand ſchlendernd. „Ich bin nicht der
Einzige. der in's Unglück gerathen iſt.
Bentley ſteckt ſo tief im Loch wie ich.“
; Wegen der Vitriolgeſchichte?“
„Nein, wegen“
Wegen?“
„An Ihnen iſt ein Yankee verloren;
Mr. Twiſſelton. Kein Menſch beſitzt ein
ſolches Geſchick, einen armen Tenfel aus
zuholen.“
Armer Tenſfel was, der elegante
Mr Lin?“
„Da haben wirs. Ich bin fertig und
muß weichen geben. Es hilft nichts, ge
gen ſeinen Advokaten Komödie ſpielen zu
wollen“
„Ein ſehr verſtändiger Schluß,“ be—
merkte Twiſſelton mit einem Lächeln.
„Sie gefallen mir beſſer in Ihrer natür—
lichen Rolle, als in der angenommenen,
obſchon die letztere unterhaltend genug iſt.“
Es hatte in der Abſicht des Sprechers ge~
legen, ſeinen Klienten begreiflich zu ma
chen, wie vollſtändig er ihn in ſeiner Ge
walt hatte, und ſeiner Angſt eine richtige
Auskunft über den Aufenthalt Bentle'ys
abzudrängen, deſſen Reiſe nach England
ihm ſehr apokryphiſch varkam. Memnon
kehrte mit der Cigarrendoſe zurück.
„Verſuchen Sie eine von dieſen,“ ſagte
der Zigeunner. „Regelmäßig feine.“
Twiſſelton wählte eine aus und legte
ſie neben ſich hin.
„Und noch mehr Wein.“
„Sogleich, Maſſa Lin “
„Mein lieber Freund, Sie haben meine
Frage noch nicht beantwortet,“ ſagte der
Advokat.
„Welche Frage ?“
„Wo iſt Mr. Bentley ?“
„Wie ich Ihnen ſagte, auf dem geraden
Weg nach Liverpool; Sie können ſich
ſelbſt überzeugen.“ Lin langte aus ſeinem
Taſchenbuch die Inſtruktionen herans,
die ihm ſein Aſſoeie zurückgelaſſen hatte
Tioiſſelton nahm ſorgfaͤltig Einſicht davon.
„Beilänfig, wie ging es zu, daß Sie mich
hier auffanden? Mein letter Brief an
Sie war von New York aus dadirt.“
Der Advocat antwortete, daß er ihn
fzuerſt dort geſucht habe. „Aber ein Stern
lerſter Größe,“ fügte er bei, „konnte nicht
: vom faſhionablen Horizont verſchwinden,
ohne“
„Laſſen Sie mich in Ruh, mit dieſem
Unſinn, unterbrach in Lin und ſtürzte
abermals einen Kelch hinunter.
Wie wir ſchon bemerkten, war der
Advokat nicht blos ein Mann von Grund—
ſſa en, ſondern auch von wohlwollenden
Er hatte während ſeines Be—
ſſuches in Mancheſter Vieles über die
Laufbahn des Zigeuners und ſeiner alten
Mutter erfahren, welche ihrem Sohn bei
ſeinen Handelsſpeeulationen ſo geſchickte
Beihilfe geleiſtet. Da die reſpektable alte
Dame nicht mehr arbeitsfähig war, ſo
ſtellte Twiſſelton dem Zigenner das An—-
ſinnen, fůr ſie zu ſorgen.
„Sie können Sie nicht verhungern laſ
ſſen,“ fůgte er bei.
ttuſte er vet widerholte Lin la
chend. „Sie kennen die Alte nicht; die
bringt ſich überall durch. Außerdem iſt
ſie Schuld daran, daß“
„Sie den armen Willie Hannan vitri
ſolten?“
„Ich kann darauf weder ja noch nein
ſagen,“ lautete die kluge Antwort.
„Wenigſtens müſſen Sie zugeben, daß
ſie Anſprůche an Sie hat. Von Liebe
will ich nicht reden, denn über ſolche
Rückſichten ſetzt ſich der Weltmann weg.
Das Geſchäft wurde mit gemeinſchaftli
chem Kapital begonnen“
„Woher wiſſen Sie dies?“
„Die Summe, die Doktor Bellow für
die Körper Ihrer zwei vortrefflichen Ver—
wandten bezahlte, gehörte wohl eben ſo
gut ihrer Mutter wie ihrem Bruder.“
Lin erröthete tief. Es war dieß vielleicht
die einzige Handlung ſeines Lebens, die
Savannah, Ga., den 14. Auguſt 1872.
er herzlich bereute, allerdings nicht in
Folge einer edleren Regung, ſondern aus
emere „Wahrſcheinlich iſt Ihnen
auch bekannt, daß ich ſie wieder zurück.
kanfte.“
„Gereicht ihrem Herzen ſehr zur Ehre.“
„Und ſie begrub.“
„Wo?“
„Wo ſie geboren oder vielmehr gewor·
fen wurden wie die Jungen des wilden
Fuchſes; denn die Hausbewohner hätten
ihnen die Ruhe auf dem Kirchhof, wo wir
miteinander zu ſpielen pflegten, nicht ge
gönnt. Zum Henker, warum erinnern
Sie mich an dieſe Dinge, habe ich nicht
ohnehin genug zu denken?“
Zum erſten Male waͤhrend ihrer Unter—
redung begaun Twiſſelton den Sprecher
als ein der Menſchheit verwandtes Weſen
zu betrachten. „Sie war ihre Mutter
ſo gut wie die Ihrige.“
„Ja,“ verſetzte Lin nachdenkend, „und
an ihr liegt die Schuld nicht, wenn wir
Diebe und Schelme wurden; die Welt
ließ uns keine andere Wahl. Sie ſoll
meinetwegen vierzig Pfund jährlich ha—
ben das iſt ein ſchöͤnes Geld; aber kei
nen Penny für den alten Spitzbuben,
und wenn er verhungerte. Bei —“
„Sie brauchen nicht zu ſchwören. Die
Intereſſen Ihres Onkels gehen mich nichts
an.“
„Verkauft der Schurke ſein eigen Fleiſch
und Blut!“
„Und noch obendrein lebendig, be—
merkte der Advokat lächelnd. Das iſt ein
Unterſchied.“
„Machen Sie fünfzig Pfund. Sie
kann nicht mehr lange leben.“
Nach einigen Zögern willigte der zärt
liche Sohn ein. Der lettere Grund blieh
wahrſcheinlich bei der Entſcheidung nicht
ohne Einfluß. Mr. Twiſſelton begab ſich
nun auf ſein Zimmer, um nach Verfeh·
lung ſeines Reiſezwecks über die weiteren
Schritte nachzudenken
Zuerſt beſchloß er an Mr. Aſhton zu
ſchreiben und ihn von dem voransſichtli
chen baldigen Eintreffen John Bentley's
zu Liverpool in Kenntniß zu ſezen. „Es
gibt ein Schickſal in ſolchen Dingen,“
murmelte er vor ſich hin. „Wär hatte
Bentley die Dummheit zugetraut, zurückzu—
kehren das Land der Sicherheit zu ver
laſſen und das der Gefahr wieder aufzn—
ſuchen?“ Er wollte eben ſeinen Brief
ſiegeln, als Memuon mit noch zwei an—
deren ſchwarzen Kellnern in's Zimmer
ſtůrzte.
„Maſſa Lin! Maſſa Lin!“ keuchte der
Neger mit wildrollenden Augen.„Erſterb,,
Der Advokat ſprang wie elektriſirt von
ſeinem Sitz auf. „Sterben?“
„Er ganz roth im Geſicht wie Trut—
hahn. Trink zu viel Champagner. Zwei
Flaſchen, ſeit Sie fort ſein.“
Der Rechtsgelehrte eilte nach Lin's Zim
mer und fand die Mittheilung des Kell—
ners nur zu wahr; ſein Klient lag be—~
wußtlos auf den Boden, die Augen weit
loffen, daß Geſicht purpurroth und gednn—
ſen, die Hände ſo krampfhaft geballt, daß
die Nägel in die Haut eindrangen.
„Sogleich einen Arzt herbei!“ rief er.
Einer der Kellner verſchwand. „Und ein
Federmeſſer halt, das habe ich ſelbſt.“
Ru größter Ruhe und Geiſtesgegenwart
fühlte er nach der Schläfenader ſeines
Klienten und öffnete ſie geſchiekt mit der
ſcharfen Spitze. Nur einige Tropfen
ſchwarzes Blut floſſen noch. „Gebt mir
hurtig ein Glas nicht dieſes, ein klei—
neres.“ Memnon brachte einen Cham—
pagnerkelch. „Jetzt zündet ein Stück Pa
pier an und haltet das Glas darüber.“
Der Weiſung wurde Folge geleiſtet, und
ſobald die nre die Luft verdünnt
hatte, ſetzte Twiſſelton den Kelch als
Schröpfkopf auf die Aderöffnung. Nach
einigen Minnuten floß das Blut reichlicher.
Dieſes Verfahren wurde bis zur Ankunft
des Arztes mehrmals wiederholt. Der
Doktor war höchlich erſtaunt über dieſe
beſonnene Prozedur eines Laien, die er
nur loben konnte. Er fühlte den Puls
des noch immer beſinnungsloſen Mannes
und unterſuchte ſodann ſjeine Augen.
„Hm, ich verſtehe dies nicht ganz,“ ſagte
er. „Was hat er genoſſen?“
„Minzjulep und Wein,“ antwortete der
Neger. „Er trinkt den ganzen Tag.“
„Ah, miteinander gezecht?“ ſagte der!
Arzt.
„Nur mäßig, verſetzte Twiſſelton.
„Um ſo beſſer für Sie,“ lautete die
Erwiderung. Der Doktor hatte augen
ſcheinlich einen Gedanken aufgegriffen,
über den er ſich nicht ganz ſicher fühlte,
oder den er nicht klarer ausdrücken wollte.
Die Füße des Patienten wurden mit Ka
taplasmen belegt und die Schröpfköpfe ſo
lange erneuert, bis der Arzt,es füt an
der Zeit hielt, die Blutung zu unterbre~
chen. „Was menſchliche Kunſt für ihn
thun kann, iſt geſchehen,“ ſagteer. „Das
Uebrige muß ich dem Zufall überlaſſen.“
Als man Lin zu Bett brachte kam er
ein wenig zur Beſinnung; er erkannte
ſeinen Advokaten und ſtreckte die Hand
nach ihm aus. „Sie müſſen nicht zu
ſprechen verſuchen,“ ſagte der Gentleman,
ſie ergreifend. Die Mrdero blieb un
beachtet. Der Zegeuner murmelte den
Namen Bentley und etwas von Cigarren
doſe; daun verlor er wieder das Bewußt
ſein. Eh' Twiſſelton das Zimmer verließ,
ing er auf den Tiſch zu und ſteckte das
us in ſeine Taſche.
(Fortſetung foltg.)
Aerztliche Erinnerungen
aus dem
deutſch - franzöfiſchen Kriege.
Von Dr. Th. Nieſenſtahl
!
In eiligen Märſchen nahten wir der
Grenze, der unaufhaltſam die gewaltigen
Kolonnen zuſtroömten ; doch ſelbſt die groͤß
ten Tagemärſche genügten kaum den ſo
uatürlichen Wünſchen, nicht fehlen zu dür
fen auch mit unſerem Helfen am Tage
des erſten gewaltigen Ringens, der nach
allem nicht mehr fern ſein konnte. So
langten wir ngch einem ſtarken Ritte am
Spaͤtmittage des 6. Augnſt in Übach,
einem etwa 3 Meilen von Saarbrücken
entfernten Städtchen, an. Weit war be—
reits der Abend vorgerückt, doch noch im
mer ließ unſere freudig erregte Stimmung
uns nicht an Ruhe denken; über den Taß
von Weißenburg hatten wir bereits ge—
nauere Nachrichten, aber auch ſchon von
Wörth war heute eiu allerdings noch dunk.
les Gerücht zu uns gelangt. Und ſo
mußten denn die nächſten Tage auch uns
den gewaltigen Kriegsſchauplat entrollen,
waren wir doch bereits bis auf einen klei
nen Tagemarſch dem Feinde nahe.
Da plötzlich wurde unter dem Fenſter
des Gaſthauſes ein Pferd aus ſcharfer
Gangart parirt, und gleich darauf trat
eine Ordonnanz in das Zimmer, mit der
Frage vortretend, ob nicht vielleicht Feid
lazarethe in der Stadt lägen. Nachdem
ich ihm die Auskunft ertheilt, daß ich
ſelbſt Stabsarzt eines ſolchen ſei, uůber
reichte mir derſelbe einen Zettel mit dem
Befehle des Korpsgeneralarztes, die zwei
zunächſt aufzufindenden Feldlazarethe hät
ten ſich ſofort im Eilmarſch nach Saar—
brücken zn begeben. Ein heftiges Gefecht
habe ſich dort bei ſeinem Fortreiten ent
wickelt.
Im Nu waren unſere Abtheilungen
alarmirt, und, da die Fortbewegung unſe—
-8 ſchwer beladenen Maden in dem gebir—
gigen Terrain nicht ohne Zeitverluſt vor
ſich ging, eilte ich mit einem gutberittenen
Aſſiſtenzarzte, ſo ſchnell uns unſere indes
bereits ſehr ermüdeten Pferde tragen woll.
ten, voraus, um wenigſtens die ärztliche
Kraft ſo ſchnell wie möglich auf die Stätte
des Kampfes zu bringen. Leider erreichte
uns unterwegs eine weitere Ordre vom
Trainkommandeunr, wir hatten nämlich
unſere Befehle von zwei Seiten zu em—
pfangen, welche uns nach Burbach di—
rigirte, und langten wir dort, einem etwa
eine kleine halbe Stunde ſeitlich von St.
Johann, der Vorſtadt Saarbrückeus, ge~
legenen Orte im erſten Morgengrauen an.
Nachdem wir die daſelbſt nur ſpärlich vor~
haudenen Verletzungen verbunden, be—
ſchloſſen wir, weil weder weitere Vewun—
dete, noch auch die Wagen unſeres el~
zarethes eintrafen, dem erſten Befehle ge
mäß, uns nach Saarbrücken zu Fuß auf
den Weg zu begeben, da unſere Pferde
nicht mehr der kleinſten Leiſtung fähig
waren.
Nun aber mehrten ſich mit jedem Schritte
die Zeichen des Kampfes in ſchreckenerre—
ender Weiſe, bis dieſelben in St. Johann
hender einen nicht geahnten Höhepunkt
erreichten. Jetzt ſchallten uns, die das
rothe Kreuz kennzeichnete, Hilfernfe von
Haus zu Haus entgegen. Zwar rief die
Pflicht uns unerbittlich vorwärts, denn
möͤglichſt ſchnell mußten wir unſere verlo—
rene Abtheilung zu erreichen ſuchen, zu—
mal wie erſt im Beſitze all der Hilfsmittel
welche unſere Wagen führten, wirklich
nachhaltiges zu leiſten im Stande waren;
doch war es ganz unmöoͤglich, überall ohne
Zögern vorüberzugehen. lndes ein
Wort des Rathes, ein Handgriff, der eine
beſſere Lagerung erzielte, war alles, was
wir bringen konnten und durften. Vor
nehmlich waren es die Schmerzensſcenen,
welche unſere Füße bannten, wenn einer
von den Tapferen, dem die Kugel das ge—~
troffene Glied zerbrochen, vom Wagen,
Karren oder auch nur einer Leiter, kurz
was gerade zur Hand geweſen, als man
ihn von der Wahlſtätte aufgeleſen, geho—
ben wurde, um in ein Haus getragen zu
werden, während die wohlwollenden aber
ſo ungeſchickten Hände durch arge Ver
ſchiebung der gebrochenen Knochen dem
armen Verwundeten unſaͤglichen Schmerz
bereiteten. Freilich da war es unmoͤglich
vorüberzueilen; ſchnell griffen wir zu und
das zerſchoſſene Glied in den darin geb
ten Händen ſicher haltend, leiteten wir die
Ueberſiedelung. Dann das Gegenlegen
eines Kiſſens, die Anorduung kalter
ſchläge, noch ein Händedrück, und weiter
rief es uns zu neuen Scenen des Jam—-
mers. *
Endlich der morgen begann bereits
vorzuſchreiten, trafen wir auf die Wagen
nnſeres Lazarethes, welches gerade begon~
nen hatte, ſich in der ſogenaunten,„Neuen
Schule von Saarbrücken zu etabliren.
Schnell waren die eilig mit Stroh gefüll-
Matratzen in den Sälen, deren die
Anſtalt 12 zählte, in langen Reihen gela—
gert, mitt einem Betttuche überzogen und
eine wollene Decke daneben gelegt, alles
dieſes führten unſere Wagen mit ſich;
dann begannen wir, die Tragbahren,
welche ſchaarenweife herannahten, ihres
traurigen Inhaltes zu entleeren. Doch
bald nur viel zu bald waren unſere
Säle überfüllt, und weiter mußten wir
die armen Hilfeſuchenden ſenden, deren
Träger unſere Fahne noch immer in neuen
Schaaren en
Unſer eigentliches Schaffen aber nahm
jetzt ſeinen Anfang. Eiligſt waren einem
jeden von uns zwei Sale zugetheilt, und
wir begannen, je von einem Oberlazareth—
gehilfen, verſchiedenen Heildienern und
einigen freiwilligen Krankenpflegern aus
Saarbrüůcken begleitet, die traurige Mu
ſterung.
Ich trat zum erſten Krankenlager.
Der Verwundete lag mit ruhiger, faſt
heiterer Miene da, nur den rechten Arm,
um den ein Tuch geſchlungen war, ſichtlich
mit großer Vorſicht ſtůtzend.
„Nun mein Freund, Schuß durch den
Arm?“
„Za wohl. Herr Doktor, einen durch
den Arm und einen durch das Bein.“
„Bitte ziehen Sie einmal die Knie an.“
Das ging vortrefflich und ſichtlich auch
faſt ohne Schmerz, alſo war dieſer Schuß
jedeufalls nur eine Fleiſchwunde. Wäh
rend ich einen Lazarethgehilfen anwies,
die Beinkleider zu trennen, begann ich
den verletzten Arm zu unterſuchen. Doch
ſchon, wie meine Hand ſich demſelben nä—
lherte, verhieß ſeine äußerſt ängſtlich wer
dende Miene nichts Gutes. Das Tuch
wurde abgenommen und nun mit dem
·Vorderarme, den die Kugel durchbohrt
hatte, eine leichte Bewegung ausgeführt.
tHeftig verzog ſich das una des armen
·Burſchen; noch eine kleine Bewegung,
ſleider beide Knochen waren durchſchoſ
ſen.
» „Beſorgen Sie ſchnell,“ wandte ich mich
an einen der Heildiener, „die Füllung
leines kleinen Strohkiſſens u. zweier Sand—
ſäcke,“ (kleine wurſtfoöͤrmige Beutel, die
wir in großer Menge bei uns führten,)
während ich einem zeiten Wärter den Auf—
tſtrag gab, eine Eisblaſe zu füllen.
Der zweite Schuß war durch die rechte
Wade gegangen, ohne die Knochen zu be—
nhrühren, mithin allem Vermuthen nach
leine leicht verlaufende Verletzung.
„Schreiben Sie,“ wandte ich mich an
den protokollirenden Gehilfen: „Schuß—
lfraktur beider Knochen des rechten Vorder-~
armes und Fleiſchſchuß durch die rechte
Wade“
e Eilig legte ich während des auf jede
vorher ſorglich gereinigte Schußöffnung
einen Charpiebauſch und befeſtigte dieſel
ben mit einer leicht angefeuchteten Binde.
Dann wurde der zerbrochene Vorderarm
auf das bereits herbeigeſchaffte Strohkiſſen
gelagert und durch die ſeitlich gegengeleg—
ten Sandſacke befeſtigt, während der Pro—
tokollführer noch den Namen, den Ge—
burtsort, das Regiment ~e. des Verwun·
deten vermerkte, fuͤr die Liſte, die nun ja
bereits mit ſo bangen in der Heimat er
wartet wurde; ein eigenthümlich bedrük
kendes Gefühl, noch ganz allein die Kennt
niß von all dem Unglůt zu tragen, wel
ſches bald ſo viele heiße Thränen den jetzt
f wohl noch froh, wenn auch ängſtlich Hof
fenden in der Heimat erpreſſen ſollte!
„Nur guten Muthes, mein alter Freund
wird ſich wieder machen mit Euch,“ da
»mit wandte ich mich zu dem Folgenden,
deſſen Blicke mir bereits mit großer Angſt
hentgegenſchauten. „Wo ſind Sie verlett
tmein Braver?“
„Durch die Bruſt,“ war die müh—
ſame Antwort, aus der leider ſchon mit
·Sicherheit die VBerletzung der Lunge zu
befůrchten ſtand. ;
: ͤrren Sie gehuſtet?“
Jawohl und zwar viel Blut,“
Lquälte er noch angeſtrengter hervor. :
„Jetzt nicht mehr reden, bitte; wir wer—
;den ſchon ſehen.“
DOie Kugel war vorn faſt in die Mitte
der Bruſt eingedrungen; hinten unter
»dem Schulterblatte zeigte ſich die größere
Ausgangsöffnung. Hier war zunächſt
ein gangron genauer Verſchluß, um jeden
Luftdurchtritt abzuſchneiden, die Haupt
ſache.
„Reichen Sie mir Charpie, Heftpflaſter
lund Collodium,“ wandte ich mich zurück.
; Nachdem ich alsdann zunächſt Charpie
auf die gereinigte vordere Wunde gelegt,
befeſtigte ich dieſelbe hier mit großer Vor—
hſicht durch zahlreiche ene aufgelegte
Heftpflaſterſtreifen und überzog ſchließlich
das Ganze mit einer dichten Schicht Col
lodium. Ebenſo wurde mit der hinteren
Wunde verfghren, und dann eine große
Tisblaſe auf die Bruſt gelegt. Schließ
lich ließ ich dem Kranken noch mehrere
Kopfkiſſen unterſchieben, um eine möglichſt
hohe Lage des Oberkörpers zu erzielen.
„Ruhe mein Freund, iſt für Sie jetzt
die Hauptſach~, at bitte, kein Wort ſpre-~
chen! Trinken Sie Selterswaſſer mit war—
mer Milch, nur nichts Heißes!“
Noch ein Muth zuſprechender Gruß
für den ſchwer, obgleich nicht hoffnungs—
los Verletzten, der ſich ſichtlich etwas er
leichtert fuͤhlte, und, mich unwendend,
ſtand ich vor einem fröhlich lächelnden
Geſichte, welches mir, die Cigarre im
Munde, vom nächſten Lager entgegenſah.
„Bitte,“ redete ich ſchnel! ihn an, laßt
Eurem Nachbar zu Liebe das Rauchen!
Ihr kommt ja ohnehin ;bald von hier
fort, “ denn wohl ſah man es dem fröhli
chen Burſchen an, daß für ihn nicht lange
ſeines Bleibens bei uns war. „Wo
habt ihr Enren Schuß?“
„Durch beide Arme und Beine.“
„Oho, und ſo fidel? Bewegen Sie doch
einmal!“
„Das geht alles ganz vortrefflich!“
und ſogleich focht der kleine Kerl gar ko—
miſch mit Armen und Beinen in der Luft
I. Stern. Herausgeber.
Lanfende Nummer 69.
ſumher. Richtig, zwei Kugeln hatten ſich
die Weichtheile der Arme, und eine, von
der Seite durchfahrend, die Muskeln bei
ſder Oberſchenkel mit ſolcher Genauigkeit
ausgeſucht, daß weder Knochen, noch auch
Adern oder Nerven irgend erheblicher Art
verletzt waren. Auch dhier wurde indes
genau berbunden.
„Na, Ench werden zwar Eure Schüſſe
nicht viel zu ſchaffen machen tragdem aber
Ruhe und kalte Umſchläge! Mau darf
ſmit dem Feuer nicht ſpielen es ſind im—
merhin der Oeſffnungen acht!“
Wech trauriger Kontraſt!
Auf dem Nebenlager ruhte eine voͤllig
unbewegliche Geſtalt in Officieruniform
ſmi jenem bleichen, ſo eigenthümlich er
griffenen Geſichtsausdrucke, wie er ſehr
ſſchwer Verwundeten eigen, ſelbſt wenn we
der Schmerz noch große Beängſtigung die
ganze Gefahr ahnen laſſen.
„Wo haben Sie ihre Kugel, Herr Lieu—
tenant?“ und wohl mochte ein unwillkür
lich mitleidiger Ton meine Befürchtung
verrathen haben, denn:
„Iſt nicht ſo ſchlimm, Herr Doktor, im
Rücken,“ war die ſchnelle Antwort.
Vorſichtig ließ ich den Verwundeten
ein weniges auf die Seite wenden.—
Unter dem linken Schulterblatte war die
Kugel eingedrungen. Ich umfühle den
Körper, eine zweite Oeffnung fand ich
nicht.
„Iſt die Kugel wieder heraus?“
„Ich glanbe nicht.“
Schon aber war es mir aufgefallen,
daß die Beine von den Wärtern ſich gar
unbehilflich hatten wenden laſſen.
„Bitte, wollen Sie nicht einmal die
Füße bewegen.“
Der geſammte Unterkörper blteb ſtill
und ſtarr.
„Wollen Sie nicht einmal verſuchen?
„Ich bin ja am vollen Bewegen,“ war
die ganz ätrgerliche Antwort, während
Beine und Füße wie abgeſtorben ruhen
blieben.
Ich ſtrich über den Fuß mit dem Fin—
ger.
„Fühlen Sie das?“
„Ich fühle nichts!“
Ich ſtach mit einer Nadel tief in die
Haut.
„Haben Sie jetzt etwas gefühlt ?“
„Nein, gar nichts.“
Der Aermſte! Unzweifelhaft war die
Kugel mit dem Rückenmark in Berührung
gekoͤmmen und hatte die Leitung zwiſchen
Nerven und Gehirn zerſtört ein rettungs
los Verlorener.
Ich führte die Sonde in den Schußka—
nal, derſelbe erſtreckte ſich zur Wirbelſänle
auf die Kugel ſelbſt kam ich nicht. So—
gleich indes verzichtete ich auf jedes wei—
tere Suchen, das dem Hoffnungsloſen
nur nutzloſe Qualen bereiten mußte.
Nachdem ich eine Eisblaſe gegen die ge—
troffenene Seite gelegt hatte, nahm ich
den Protokollführer die Liſte ab, um nicht
beim Diktiren möglicherweiſe von dem
Verwundeten verſtänden zu werden, und
und ſchrieb ſelbſt:
„Leutenant St., Regiment Nr.....
Schuß in den Rüůcken, Wirbelſäule verleßt
Kugel zurück, tödtliche Verletzung.“
„Der Kranke erhält was verlangt,“
ordnete ich alsdann an; in der Regel lei
der ein Wort von boͤſer Vorbedeutung
im Munde des Arztes; „ſobald Zeit dazu
vorhanden, ſoll Champagner beſorgt und
ſtark geeiſt gereicht werden; eine außeror
dentliche Erquickung für den in ſolchen
Fällen gemeiniglich in kurzem ſich ein—
ded Durſt, welcher Vuuſch denn
auch ſehr bald durch die und mit großer
Enertit gemeinſchaftlich zu Hülse kommen
den Johanniter- und Malteſerritter erfůllt
wurde.
Der Anblick des folgenden Kranken
war ein außerordentlich betrübender, ja
ſchauerlicher; er bot vielleicht das trau—
rigſte Bild, welches die mörderiſche Kugel
erzeugt, einen Schuß durch den Unterleib.
Freilit eine Verletzung, die gemeiniglich
jöchſtens Tage zu ihrem faſt regelmäßig
tödtlichen Berlaufe bedarf.
„Wo haben Sie Ihren Schuß ?“ fragte
ich, von innigſtem Mitleiden ergriffen,
den ſchmerzverzogenen Mann deſn Lei~
den noch durch ein fortwähreudes
Würgen zum Unerträglichen geſteigert
wurden.
„Durch den Unterleib,“ hauchte der
ſelbe.
„Haben Sie viel Schmerzen, mein
Freund ?“ fragte ich weiter, waährend ich
den Leib unterſuchte, durch den die Kugel
faſt mitten hindurchgegangen war.
„Ach ſehr, ſehr viel, “ wimmerte der
arme Krauke.
„Ein Glas geeiſtes Waſſer!“
Schnell et ich dann zwei Morphi—
umpulver aus meiner Verbandiaſae
ſchüůttete dieſelben in einen Theelöffel, gab
ſie dem Kranken ans die Zunge und reichte
ihm das geeiſte Waſſer:
„Bitte trinken Sie!“
Einige Momente des Würgens noch,
aber die Pulver waren geichiut und
konnten nun ihre ſichere Wirkung nicht
verfehlen.
„Haben Sie irgend Wünſche, mein
Braver?“ wandte ich mich noch einmal
an den ſo ſchwer Gẽtroffenen.
„Iſt Gefahr vorhanden ?“ fragte der
ſelbe zurück.
„Die Wunde iſt nicht ungefährlich.“
„Meine arme Mutter“ ;